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2. Terminologische Klärungen
48 Wer hingegen eine Kohärenztheorie der Wahrheit vertritt , kann moralische Sätze un-
abhängig von der Existenz moralischer Eigenschaften oder Tatsachen als wahrheitsfähig
( truth-apt ) betrachten. ( Pauer-Studer 2010 , 194 f. )
2.3.4 Erkenntnistheoretische Positionen
In erkenntnistheoretischen Positionen geht es darum , ob es moralisches Wissen gibt , d. h.
ob und inwiefern moralische Erkenntnis möglich ist. Von möglicher Erkenntnis werde ich
sprechen , wenn etwas in einer intersubjektiv verbindlichen Weise als wahr / falsch , rich-
tig / falsch oder gültig / ungültig ausgewiesen werden kann.
Obwohl die Unterscheidung von Kognitivismus und Nonkognitivismus üblicherwei-
se auf sprachphilosophischer Ebene formuliert wird , liegt der zentrale Punkt der Debat-
te letztlich in der Frage nach der Möglichkeit moralischer Erkenntnis. Dieter Birnbacher
verwendet die Ausdrücke „Kognitivismus“ und „Nonkognitivismus“ deshalb nur für er-
kenntnistheoretische Positionen. ( Birnbacher 2003 , 432 ) Ich werde in Ergänzung zu ei-
nem sprachphilosophischen Kognitivismus und Nonkognitivismus von einem erkenntnis-
theoretischen Kognitivismus und Nonkognitivismus sprechen :
These des erkenntnistheoretischen Kognitivismus : Moralische Erkenntnis ist möglich.
These des erkenntnistheoretischen Nonkognitivismus : Moralische Erkenntnis ist nicht
möglich.
Letztlich geht es in erkenntnistheoretischen Debatten um die Frage von Autorität und
Verbindlichkeit von Sätzen. Im Falle moralischer Debatten steht die intersubjektive Ver-
bindlichkeit von Definitionen moralischer Ausdrücke , moralischer Wert- und Normsät-
ze sowie von moralischen Imperativsätzen zur Disposition.
Der Kognitivismus ist traditionell häufig mit einem starken moralischen Realismus ver-
bunden , der behauptet , es gebe eine moralische Realität , die von den Einstellungen der
sich Äußernden unabhängig ist. Dies kann die intersubjektive Verbindlichkeit der Sätze
gut erklären , so diese lediglich die unabhängigen Tatsachen adäquat zum Ausdruck brin-
gen. ( Vgl. Birnbacher 2003 , 358 )
Wer in der Moralontologie einen empirischen Naturalismus vertritt , braucht zur mo-
ralischen Erkenntnis darüber hinaus keine anderen Erkenntnisquellen als die empirischen
Wissenschaften. Ob ein moralischer Satz wahr oder falsch ist , kann mithin dadurch in-
tersubjektiv verbindlich aufgezeigt werden , indem untersucht wird , ob Einzelne oder eine
Gruppe diesem moralischen Satz zustimmen. Wer nicht-naturalistische Versionen des Re-
alismus vertritt , braucht hingegen spezielle Erkenntnisquellen. Der Intuitionismus als eine
Variante des erkenntnistheoretischen Kognitivismus nimmt eine spezifisch moralische In-
tuition als Erkenntnisquelle an :
These des Intuitionismus : Die Wahrheit / Falschheit , Richtigkeit / Falschheit bzw. Gül-
tigkeit / Ungültigkeit moralischer Sätze ist auf dem Weg einer nicht-sinnlichen Anschau-
ung ( Intuition ) erkennbar. ( Vgl. Birnbacher 2003 , 431 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441