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20 Zur soziologischen Verortung von Translation
sowohl orientierende als auch legitimierende Funktion. François Lyotard ortet
zentrifugale Kräfte wie Dezentralisierung, Pluralisierung oder Partikularisie
rung als Einflussgrößen für eine Krise des Wissens und der Auseinandersetzung
mit diesem Wissen. Im Zuge einer verstärkten Zersplitterung (»éclatement«)
und Differenziertheit dienen die »großen Erzählungen« (»grands récits«) so
mit nicht mehr als individuelle und kollektive Legitimierungen, die »Sehnsucht
nach der verlorenen Erzählung ist für den Großteil der Menschen selbst ver
loren« (Lyotard 1994 : 122). Anstelle der »grands récits« treten vielmehr die
Delegitimierung alter Wertmuster und die durch stets neu zu konturierenden
Identitätskonstruktionen hervorgerufenen gegenseitigen Abgrenzungen und
Hybridisierungen. Diese »postmoderne« Befindlichkeit ist nicht erst für das
ausgehende 20. Jahrhundert zutreffend, sondern zeigt, wie Lyotard betont, be
reits in der Wiener Moderne ihre Symptome, als eine stark ausdifferenzierte
Lebenswelt allmählich keine verbindlichen Deutungen mehr zuließ.
Die hier geschilderten Entwicklungen machen auch vor der Translationswis
senschaft nicht Halt. Im Rahmen einer Disziplin, deren Etablierung als univer
sitäres Fach erst relativ kurz zurückliegt und die weiterhin um Wahrnehmung
in der Öffentlichkeit ringt, besteht einerseits die Gefahr, das Rad ständig neu
zu erfinden und in anderen Disziplinen längst erprobte Methoden oder Denk
modelle von Beginn an neu zu »erforschen«, andererseits eröffnet sich innerhalb
dieses Ringens um Anerkennung sowohl in wissenschaftstheoretischer als auch
forschungsorganisatorischer Sicht die Chance, ein breites Experimentierfeld zu
entwerfen, in dem – vergleichsweise – wenig Traditionslinien und festgegrün
dete Gedankengebäude den Forschungsschwung zu stoppen vermögen und das
– freilich unter kritischer Berücksichtigung bestehender wissenssoziologischer
Paradigmen und in Anlehnung an grundlegende Fragen der Wissenschaftsfor
schung – die Erarbeitung und Erprobung theoretischer Konzepte und methodi
scher Modelle in epistemologischer wie heuristischer Perspektive erlaubt, ohne
stets auf oft traditionsreiche, der Disziplin inhärente wissenschaftshistorische
Überlegungen Bedacht nehmen zu müssen. Doch wird dieses Potenzial von der
Translationswissenschaft auch tatsächlich ausreichend genutzt bzw. ausgereizt ?
Es scheint nicht zuletzt diesen Voraussetzungen zu verdanken zu sein, dass
vor allem die wissenschaftstheoretische Auseinandersetzung mit translato
rischen Phänomenen in letzter Zeit insgesamt eine beachtliche Erweiterung
erfahren hat. Impulse kommen vor allem von philosophischer Seite (vgl. etwa
Hirsch 1997, Buden/Nowotny 2009), aber auch allgemein kulturwissenschaft
liche (vgl. Bronfen/Marius/Steffen 1997, Bhabha 2000, Wagner 2009), anthro
pologische (Maranhão/Streck 2003, Rubel/Rosman 2003) und feministische
Die vielsprachige Seele Kakaniens
Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Die vielsprachige Seele Kakaniens
- Untertitel
- Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
- Autor
- Michaela Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78829-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 442
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Dankesworte 11
- Einleitung 13
- Erstes Kapitel
- Zweites Kapitel
- Drittes Kapitel
- Viertes Kapitel
- Die translatorische Praxis in der »großartigen Versuchsstation« der Habsburgermonarchie 87
- »Habitualisiertes Übersetzen« 90
- »Institutionalisiertes Übersetzen« 103
- Kontakt zwischen Behörden und Parteien 120
- Dolmetschen und Übersetzen bei Gericht 128
- Die Übersetzung von Gesetzestexten 142
- Translationstätigkeit im Ministerium des Äußern und im
- Kriegsministerium 165
- Fünftes Kapitel
- Sechstes Kapitel
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- 1. Institutionalisierungstendenzen privater Übersetzung 202
- 2. Der private Übersetzungssektor als Schauplatz von
- Positionierungskämpfen 208
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- Siebtes Kapitel
- Achtes Kapitel
- Neuntes Kapitel
- 4. Folgerungen aus der Rekonstruktion des »translatorischen
- Zehntes Kapitel
- Der Vielvölkerstaat als Interaktionsfeld von Übersetzungsleistungen – Schlussbetrachtungen 362
- Verzeichnis der in der Habsburgermonarchie erschienenen Übersetzungen Italienisch – Deutsch 1848–1918 378
- Verzeichnis der Tabellen, Grafiken und Abkürzungen 392
- Tabellen 392
- Grafiken 393
- Abkürzungen 393
- Literaturverzeichnis 394
- Quellen 394
- Sekundärliteratur 396
- Sachregister 434
- Personenregister 437