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Der »cultural turn« und seine Folgen 37
zu umreißen versucht, ist im vermeerschen Kulturkonzept eine Festschreibung
kultureller Elemente zu orten, bei der von objektiven Gegebenheiten und von
Kultur als etwas Ganzes und Übertragbares ausgegangen wird. Dies ist umso
widersprüchlicher, als Vermeer grundsätzlich von einem sehr offenen Konzept
von (Original )Text ausgeht, den er als »Informationsangebot« bezeichnet und
der jeweils spezifisch zu interpretieren sei. Implizit ist hier also der Gedanke
vorhanden, dass durch jedweden Transfer »fremde« Elemente nicht eins zu eins
übertragen, sondern dekontextualisiert und neu geformt werden. Vermeer be
harrt demnach a priori nicht auf kontextunabhängiger Sinnfixierung. Jedoch
tritt er, wie angegeben, dafür ein, dass kulturspezifische Elemente eines Tex
tes – zum Zweck der Skoposerfüllung – aus ihrer ursprünglichen Verknüpfung
herausgelöst werden, um skoposadäquat in der Zielkultur neu eingepflanzt zu
werden. Das setzt voraus, dass kulturelle Elemente stets eine fixe Bedeutung
haben, aus der sie – durch die Übersetzung und dem jeweiligen Skopos folgend
– durch anzuwendende Translationsstrategien gleichsam entlassen werden :
Obigem Kulturkonzept folgend erhalten kulturelle Elemente jedoch erst durch
den Transfer, durch den »Kontextwechsel«, eine Bedeutung, denn erst dadurch
werden sie in einen kulturellen Kontext eingebunden. Kulturelle Elemente sind
stets für Interpretationen offen, sonst können sie gar nicht transferiert werden
(Celestini 2003 : 47). Es bedarf also gar nicht des vermeerschen Postulats des
»Funktionswechsels«, um die Neuverortung kultureller Elemente zu ermögli
chen – ein solcher findet durch jeden Transfer unvermeidbar statt.
Der Blick auf den Übersetzungsprozess erweiterte sich in den Achtzigerjah
ren zusehends. Doch erst die sogenannte »kulturelle Wende« in den Geistes und
Naturwissenschaften implizierte einen entscheidenden Wandel in den Konzep
ten, Modellen und Verfahren. So werden heute kulturwissenschaftliche Ansätze
diskutiert, in denen nicht mehr Texte als primäre Quellen zum Verständnis einer
Kultur angesehen werden, sondern diskursive Praktiken im Kontext historischer
Lebenswelten. Dabei erscheint es sinnvoll zu erwähnen, dass Kultur nun nicht
mehr im marxistischen Sinn als »Überbauphänomen« von zugrunde liegenden
ökonomischen und politischen Verhältnissen gesehen wird, sondern – wie Ray
mond Williams ausführt – die Wechselwirkung zwischen diesen Subsystemen
einer Gesellschaft ins Blickfeld der ForscherInnen gerät (vgl. dazu im Detail
Hárs/Müller Funk/Reber/Ruthner 2005).
Mary Snell Hornby, die in dem paradigmatischen Band von Susan Bassnett
und André Lefevere Translation, History and Culture (1990) die folgenreiche
Forderung nach einer Ausweitung des Untersuchungsrahmens von Übersetzung
in Richtung kultureller Kontexte stellt und damit dem Paradigma der »kultu
Die vielsprachige Seele Kakaniens
Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Die vielsprachige Seele Kakaniens
- Untertitel
- Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
- Autor
- Michaela Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78829-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 442
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Dankesworte 11
- Einleitung 13
- Erstes Kapitel
- Zweites Kapitel
- Drittes Kapitel
- Viertes Kapitel
- Die translatorische Praxis in der »großartigen Versuchsstation« der Habsburgermonarchie 87
- »Habitualisiertes Übersetzen« 90
- »Institutionalisiertes Übersetzen« 103
- Kontakt zwischen Behörden und Parteien 120
- Dolmetschen und Übersetzen bei Gericht 128
- Die Übersetzung von Gesetzestexten 142
- Translationstätigkeit im Ministerium des Äußern und im
- Kriegsministerium 165
- Fünftes Kapitel
- Sechstes Kapitel
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- 1. Institutionalisierungstendenzen privater Übersetzung 202
- 2. Der private Übersetzungssektor als Schauplatz von
- Positionierungskämpfen 208
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- Siebtes Kapitel
- Achtes Kapitel
- Neuntes Kapitel
- 4. Folgerungen aus der Rekonstruktion des »translatorischen
- Zehntes Kapitel
- Der Vielvölkerstaat als Interaktionsfeld von Übersetzungsleistungen – Schlussbetrachtungen 362
- Verzeichnis der in der Habsburgermonarchie erschienenen Übersetzungen Italienisch – Deutsch 1848–1918 378
- Verzeichnis der Tabellen, Grafiken und Abkürzungen 392
- Tabellen 392
- Grafiken 393
- Abkürzungen 393
- Literaturverzeichnis 394
- Quellen 394
- Sekundärliteratur 396
- Sachregister 434
- Personenregister 437