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66 Das habsburgische Babylon
Abfassung von Artikel 19 des Staatsgrundgesetzes (1867),34 der das Grundrecht
auf »Wahrung und Pflege von Nationalität und Sprache« sichern sollte und bis
1918 die grundlegende Norm des Nationalitätenrechts der österreichischen
Reichshälfte der Doppelmonarchie blieb, zahlreiche Diskussionen auf sprach
philosophischer, (national )pädagogischer sowie (national )politischer Ebene
vorangegangen, deren historische Verknüpfung sowohl in Herders Konzept von
der »Eigentümlichkeit« der Sprache als auch in nationalen Erziehungskonzepti
onen und vor allem in grundlegenden Aussagen bedeutender Staatsmänner wie
František Palacký oder József von Eötvös u.v.m. verortbar ist. Herders Ansicht
»jedes Volk ist Volk ; es hat seine National Bildung wie seine Sprache« (Her
der o. J., zit. nach Anderson 1998 : 63, Hervorh.v. Anderson) spiegelt die am
Ende des 18. Jahrhunderts bereits verbreitete Meinung von der Abhängigkeit
der nationalen Zugehörigkeit von einer exklusiven Sprache wider und sollte in
der Folge in ganz Europa einen bedeutenden Einfluss auf die verschiedenen
Konzeptualisierungen von Nationalismus ausüben (vgl. dazu im Detail Ander
son 1998 : 63ff.). Während Eötvös35 (1850) in der Frage der Gleichberechti
gung der Nationalitäten eine Bemäntelung des Strebens nach Herrschaft sieht,
legitimiert Palacký36 (1866) seine Forderung nach »vollkommener Gleichbe
rechtigung« mit naturrechtlichen Grundsätzen. Eötvös weist ferner auf den
Widerspruch zwischen der Struktur eines konstitutionellen und zentralisierten
Staates und der vollen Gleichberechtigung aller Sprachen in Gesetzgebung und
öffentlicher Verwaltung hin. Für jedes Volk sei Sprache nicht nur Mittel zur
Verständigung, sondern das Symbol seiner Berechtigung (Eötvös 1850, zit. nach
Stourzh 1980 : 995f.). Unter diesen Vorzeichen kristallisierte sich im Vielvöl
kerstaat des 19. Jahrhunderts im Zuge der Diskussion um den Nationalitäten
konflikt allmählich die Identifizierung des Sprachgebrauchs mit der nationalen
34 Dem in Cisleithanien geltenden Artikel 19 des Staatsgrundgesetzes von 1867 entsprach in Trans
leithanien Artikel 44 des Nationalitätengesetzes von 1868. Während Art. 19 von der Gleichbe
rechtigung aller Völker der Monarchie ausgeht und damit auch das Recht auf Verwendung der
Muttersprache postuliert, geht Art. 44 in Transleithanien in jakobinischer Tradition von einem
einheitlichen Nationalstaat aus, wodurch Ungarisch zur Staatssprache erhoben wird. Zur Diskus
sion »Deutsch als Staatssprache« in Cisleithanien siehe weiter unten.
35 József von Eötvös (1813–1871), ungarischer Schriftsteller und Politiker, war liberaler geistiger
Führer der national zentralistischen ungarischen Reformbewegung und 1848 sowie 1867–1871
Unterrichtsminister.
36 František Palacký (1798–1876), Historiker und Politiker, war 1848/49 politischer Führer der
tschechischen Nation im Kremsierer Reichstag. Palacký verfasste Pläne für eine föderalistische
Reorganisation des österreichischen Kaiserstaates.
Die vielsprachige Seele Kakaniens
Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Die vielsprachige Seele Kakaniens
- Untertitel
- Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
- Autor
- Michaela Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78829-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 442
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Dankesworte 11
- Einleitung 13
- Erstes Kapitel
- Zweites Kapitel
- Drittes Kapitel
- Viertes Kapitel
- Die translatorische Praxis in der »großartigen Versuchsstation« der Habsburgermonarchie 87
- »Habitualisiertes Übersetzen« 90
- »Institutionalisiertes Übersetzen« 103
- Kontakt zwischen Behörden und Parteien 120
- Dolmetschen und Übersetzen bei Gericht 128
- Die Übersetzung von Gesetzestexten 142
- Translationstätigkeit im Ministerium des Äußern und im
- Kriegsministerium 165
- Fünftes Kapitel
- Sechstes Kapitel
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- 1. Institutionalisierungstendenzen privater Übersetzung 202
- 2. Der private Übersetzungssektor als Schauplatz von
- Positionierungskämpfen 208
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- Siebtes Kapitel
- Achtes Kapitel
- Neuntes Kapitel
- 4. Folgerungen aus der Rekonstruktion des »translatorischen
- Zehntes Kapitel
- Der Vielvölkerstaat als Interaktionsfeld von Übersetzungsleistungen – Schlussbetrachtungen 362
- Verzeichnis der in der Habsburgermonarchie erschienenen Übersetzungen Italienisch – Deutsch 1848–1918 378
- Verzeichnis der Tabellen, Grafiken und Abkürzungen 392
- Tabellen 392
- Grafiken 393
- Abkürzungen 393
- Literaturverzeichnis 394
- Quellen 394
- Sekundärliteratur 396
- Sachregister 434
- Personenregister 437