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94 Die translatorische Praxis in der »großartigen Versuchsstation« der Habsburgermonarchie
Jahre davor betrug der Anteil der aus Böhmen und Mähren nach Wien kom
menden Dienstboten 35,8 % aller Zuwanderer und Zuwanderinnen (21,5 % aus
Böhmen, 14,3 % aus Mähren ; vgl. Müller 1981 : 36). Die im Rahmen der bereits
erwähnten Volkszählung von 1910 ermittelte Umgangssprache ergab, dass 81 %
der Wiener (männlichen und weiblichen) Dienstboten als Umgangssprache
Deutsch angegeben hatten, nur 5,9 % Böhmisch82 oder Mährisch, 0,8 % andere
Sprachen der Habsburgermonarchie und 12,3 % staatsfremde Sprachen (Tichy
1984 : 24f.). Das bedeutete, dass zu diesem Zeitpunkt zum einen offensicht
lich bereits viele in der zumindest zweiten Generation in Wien lebten, zum
anderen, dass eine große Zahl der DienstbotInnen Deutsch als Umgangs (und
nicht Mutter )Sprache angaben, ohne dass dies tatsächlich von ihnen auch so
empfunden wurde. Hinter dieser Praxis stand, wie erwähnt, vor allem in Wien
ein gewisser Druck vonseiten christlich sozialer Politiker mit dem Ziel, dem
»tschechischen Element« in der Stadt entgegenzuwirken. Doch wurden in diese
Richtung auch einschlägige Organisationen wie der »Bund der Deutschen in
Niederösterreich« aktiv, die aus Anlass der Volkszählung von 1910 geradezu
einen antitschechischen Propagandafeldzug initiierten und die Meinung ver
traten, »Wien ist und muß deutsch bleiben, sonst ist das ganze Deutschtum
der Ostmark verloren. Wer in Wien lebt und hier sein Brot verdient, sei es als
Beamter, Geschäftstreibender, Arbeiter usw. muß sich der deutschen Sprache
bedienen, seine Umgangssprache ist und bleibt daher deutsch, mag er auch zu
Hause sprechen wie er will […]« (zit. nach Brix 1982 : 136).
Paradoxerweise war es zwar vielen Dienstmädchen verwehrt, in den Fami
lien »Böhmisch« zu sprechen, dennoch wurden sie als Tschechinnen anerkannt,
wie aus der Erklärung einer Wiener Bürgersfrau an einen Volkszählungsbeam
ten hervorgeht, dessen [suggestive ?] Frage lautete, ob denn ihr Dienstmädchen
wirklich nur »böhmisch« spreche :
Ah, ka Idee, i wurd ihr helfen ; ka Wort böhmisch derf’s bei mir außalass’n ; oba i
hab nur glaubt, weil’s so guad powidaln [ratschen, quasseln] kann, daß ma do muß
»böhmisch« einischreib’n ; ja do muaß ma holt aufgeklärt werd’n ! (Volkszählung.
Erlebnisse und Gedanken 1911, zit. u. erläutert nach Glettler 1972 : 221f.)
Die Plurilingualität der Hausgehilfinnen (und anderer dienstbarer Geister) war
also vorrangig funktionsbezogen, der Grad des Einsatzes der deutschen Sprache
82 Bei der mit »Böhmisch« bezeichneten Sprache handelte es sich um das Tschechische. Hier wird
die jeweils in der Literatur verwendete Bezeichnung verwendet.
Die vielsprachige Seele Kakaniens
Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Die vielsprachige Seele Kakaniens
- Untertitel
- Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
- Autor
- Michaela Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78829-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 442
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Dankesworte 11
- Einleitung 13
- Erstes Kapitel
- Zweites Kapitel
- Drittes Kapitel
- Viertes Kapitel
- Die translatorische Praxis in der »großartigen Versuchsstation« der Habsburgermonarchie 87
- »Habitualisiertes Übersetzen« 90
- »Institutionalisiertes Übersetzen« 103
- Kontakt zwischen Behörden und Parteien 120
- Dolmetschen und Übersetzen bei Gericht 128
- Die Übersetzung von Gesetzestexten 142
- Translationstätigkeit im Ministerium des Äußern und im
- Kriegsministerium 165
- Fünftes Kapitel
- Sechstes Kapitel
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- 1. Institutionalisierungstendenzen privater Übersetzung 202
- 2. Der private Übersetzungssektor als Schauplatz von
- Positionierungskämpfen 208
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- Siebtes Kapitel
- Achtes Kapitel
- Neuntes Kapitel
- 4. Folgerungen aus der Rekonstruktion des »translatorischen
- Zehntes Kapitel
- Der Vielvölkerstaat als Interaktionsfeld von Übersetzungsleistungen – Schlussbetrachtungen 362
- Verzeichnis der in der Habsburgermonarchie erschienenen Übersetzungen Italienisch – Deutsch 1848–1918 378
- Verzeichnis der Tabellen, Grafiken und Abkürzungen 392
- Tabellen 392
- Grafiken 393
- Abkürzungen 393
- Literaturverzeichnis 394
- Quellen 394
- Sekundärliteratur 396
- Sachregister 434
- Personenregister 437