Seite - 97 - in Die vielsprachige Seele Kakaniens - Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
Bild der Seite - 97 -
Text der Seite - 97 -
»Polykulturelle Kommunikation« 97
was hätte ich für ein leichtes Leben gehabt« (Kotal 1994 : 280). Der Erwerb der
jeweiligen Sprache, die in der – zumeist andere Teile der Habsburgermonarchie
betreffende, aber auch zuweilen weit über die »Grenzen« des jeweiligen Kron
landes hinausgehende – »Fremde« gesprochen wurde, stellte für die Handwerker
»auf der Walz« eine unabdingbare Voraussetzung dar, derer sie sich in den meis
ten Fällen vor ihrem Aufbruch wohl bewusst waren. Wie viele DienstbotInnen
(Glettler 1972 : 230) nutzten die angehenden jungen Handwerker die in Wien
oder anderen größeren Städten bereits ansässigen Verwandten, um vor dem
Beginn der Lehre einige Wochen Deutsch zu lernen, so auch der junge Emil
Dvořáček aus Südmähren, der, wie manch anderer Bub aus seinem Ort, im Jahre
1908 zunächst in Wien bei einem älteren Bruder wohnte und bei verschiedenen
Tanten die ersten Deutschkenntnisse erwarb, bevor er bei einem – zum Zweck
des Spracherwerbs – »Schlosser deutscher Nationalität« die Lehre aufnahm
(Dvořáček 1994 : 272f.). Die handwerklichen Wandergesellen waren zum Teil
eifrig bemüht, ihre Sprachkenntnisse zu verbessern, wie der junge Josef Mlch,
der sich im Jahre 1886 auf »vandr« begab, bezeugt : »Da ich hier [handwerklich]
nichts mehr dazulernen konnte, radebrechte ich zumindest Deutsch. Lange Zeit
führte ich ein Notizbuch, wo ich mir geläufige Vokabel ›auf tschechisch und
auf deutsch‹ notierte« (Mlch 1994 : 90). In manchen Fällen waren diese Bemü
hungen von beruflichem Erfolg gekrönt, wie jene des bereits erwähnten Emil
Dvořáček, der während des Zweiten Weltkrieges seine mühsam erworbenen
Sprachkenntnisse auf dem Arbeitsamt von Jihlava, Südmähren, als tschechisch
deutscher Dolmetscher zum Einsatz bringen konnte (Dvořáček 1994 : 272).
Die meisten der hier zitierten Aussagen stammen von Handwerkern, die »auf
der Walz« waren und nicht – wie viele DienstbotInnen – aus ihrer zumeist böh
mischen und mährischen Heimatgemeinde in die Großstadt abwanderten, um
sich dort in den Arbeitsprozess zu integrieren. Von diesen »fahrenden« Hand
werkern war deshalb auch ein höheres Maß an kommunikativer Flexibilität ge
fordert als von jenen, die sich in einem gesellschaftlichen Integrationsprozess
befanden ; außerdem war der Spracherwerb, wie aufgezeigt, ein wesentliches
Movens für den Aufbruch in die Fremde. Aus diesen Gründen ist die Beobach
tung, dass die nach Wien zugewanderten Handwerker in den Werkstätten meist
ihre Muttersprache verwendeten (vgl. Steidl 2003 : 48), für den hier geschilder
ten aus Migration resultierenden Handwerkstyp nicht zutreffend bzw. nicht
ausschlaggebend ; auch kann es sich nur um ein vorübergehendes Phänomen ge
handelt haben, wie die Ergebnisse der verschiedenen Volkszählungen zeigen.84
84 Steidl unterstützt diese Beobachtung mit einer Aussage eines Experten, der auf einer allgemeinen
Die vielsprachige Seele Kakaniens
Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Die vielsprachige Seele Kakaniens
- Untertitel
- Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
- Autor
- Michaela Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78829-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 442
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Dankesworte 11
- Einleitung 13
- Erstes Kapitel
- Zweites Kapitel
- Drittes Kapitel
- Viertes Kapitel
- Die translatorische Praxis in der »großartigen Versuchsstation« der Habsburgermonarchie 87
- »Habitualisiertes Übersetzen« 90
- »Institutionalisiertes Übersetzen« 103
- Kontakt zwischen Behörden und Parteien 120
- Dolmetschen und Übersetzen bei Gericht 128
- Die Übersetzung von Gesetzestexten 142
- Translationstätigkeit im Ministerium des Äußern und im
- Kriegsministerium 165
- Fünftes Kapitel
- Sechstes Kapitel
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- 1. Institutionalisierungstendenzen privater Übersetzung 202
- 2. Der private Übersetzungssektor als Schauplatz von
- Positionierungskämpfen 208
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- Siebtes Kapitel
- Achtes Kapitel
- Neuntes Kapitel
- 4. Folgerungen aus der Rekonstruktion des »translatorischen
- Zehntes Kapitel
- Der Vielvölkerstaat als Interaktionsfeld von Übersetzungsleistungen – Schlussbetrachtungen 362
- Verzeichnis der in der Habsburgermonarchie erschienenen Übersetzungen Italienisch – Deutsch 1848–1918 378
- Verzeichnis der Tabellen, Grafiken und Abkürzungen 392
- Tabellen 392
- Grafiken 393
- Abkürzungen 393
- Literaturverzeichnis 394
- Quellen 394
- Sekundärliteratur 396
- Sachregister 434
- Personenregister 437