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98 Die translatorische Praxis in der »großartigen Versuchsstation« der Habsburgermonarchie
Neben diesen unterschiedlichen Formen des »habitualisierten Übersetzens«
haben sich auch Subformen herausgebildet, die nicht eindeutig als »habituali
siert« bezeichnet werden können, da für sie zumeist nicht das wichtigste Merk
mal dieses Typs kennzeichnend war, nämlich ihre unhinterfragt postulierte
Selbstverständlichkeit. DienstbotInnen und Handwerker – die hier wie erwähnt
nur stellvertretend für eine Reihe weiterer Berufsgruppen herausgegriffen wur
den – waren kraft ihrer Tätigkeit in unterschiedlichen Abstufungen in ihren
Arbeitsfeldern gezwungen, die Sprache des »Anderen« zu sprechen und agierten
damit in zum Teil stark ausgeprägten Machtverhältnissen. Sie standen für eine
fragmentierte soziale und kulturelle Identität und trugen durch ihre Tätigkeit
in ungeahntem Ausmaß zur Herausbildung hybrider Befindlichkeiten bei. Die
hier angesprochenen Subformen des »habitualisierten Übersetzens« hingegen
beruhen grundsätzlich auf Freiwilligkeit und sind dementsprechend in weniger
starke Machtbeziehungen involviert. Im Folgenden soll der Kommunikations
typus des sogenannten Tauschkindersystems herausgegriffen werden, um eine
solche Subform zu illustrieren.
Tauschkinder85
Das oft auch »Wechsel« genannte Tauschkindersystem bezeichnete den befris
teten Austausch von Kindern zwischen unterschiedlich sprechenden Familien.
So wurden Kinder zwischen sechs und vierzehn Jahren in mehrsprachigen Ge
bieten oder entlang von Sprachgrenzen ins (eine andere Sprache als die eigene
Sprache sprechende) Nachbardorf oder auch über weitere Entfernungen ge
schickt, um die jeweils andere Sprache zum Zweck der besseren interethnischen
Kommunikation im Rahmen der Arbeitsbeziehungen zwischen den sprachli
chen »Minderheiten« zu lernen und damit bestenfalls auch die Berufschancen
zu erhöhen ; in jedem Fall konnte sich daraus ein tolerantes Verhalten gegenüber
dem »Anderen« entwickeln (Kósa 1987 : 92). Der funktionale Aspekt stand also
im Vordergrund, war aber in keiner Weise durch Gesetze geregelt und auch in
nerhalb der Dorfgemeinschaften nicht der Konvention, sondern der freien Wahl
öffentlichen Enquete über die Lage der Kleingewerbe in den Jahren 1873 und 1874 in Wien be
richtete : »Der Lehrling, welcher heute deutsch spricht, muß mit der Zeit böhmisch lernen, denn
wenn er in die Werkstätte kommt, hört er keine andere Sprache. Selbst der Meister muß böhmisch
lernen, um sich mit seinen Arbeitern zu verständigen« (vgl. Steidl 2003 : 48f.).
85 An dieser Stelle sei Michael Mitterauer von der Universität Wien herzlich für seine ersten Hin
weise zu diesem Thema gedankt.
Die vielsprachige Seele Kakaniens
Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Die vielsprachige Seele Kakaniens
- Untertitel
- Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
- Autor
- Michaela Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78829-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 442
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Dankesworte 11
- Einleitung 13
- Erstes Kapitel
- Zweites Kapitel
- Drittes Kapitel
- Viertes Kapitel
- Die translatorische Praxis in der »großartigen Versuchsstation« der Habsburgermonarchie 87
- »Habitualisiertes Übersetzen« 90
- »Institutionalisiertes Übersetzen« 103
- Kontakt zwischen Behörden und Parteien 120
- Dolmetschen und Übersetzen bei Gericht 128
- Die Übersetzung von Gesetzestexten 142
- Translationstätigkeit im Ministerium des Äußern und im
- Kriegsministerium 165
- Fünftes Kapitel
- Sechstes Kapitel
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- 1. Institutionalisierungstendenzen privater Übersetzung 202
- 2. Der private Übersetzungssektor als Schauplatz von
- Positionierungskämpfen 208
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- Siebtes Kapitel
- Achtes Kapitel
- Neuntes Kapitel
- 4. Folgerungen aus der Rekonstruktion des »translatorischen
- Zehntes Kapitel
- Der Vielvölkerstaat als Interaktionsfeld von Übersetzungsleistungen – Schlussbetrachtungen 362
- Verzeichnis der in der Habsburgermonarchie erschienenen Übersetzungen Italienisch – Deutsch 1848–1918 378
- Verzeichnis der Tabellen, Grafiken und Abkürzungen 392
- Tabellen 392
- Grafiken 393
- Abkürzungen 393
- Literaturverzeichnis 394
- Quellen 394
- Sekundärliteratur 396
- Sachregister 434
- Personenregister 437