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»Polykulturelle Kommunikation« 101
cherwerbs ebenfalls der Austausch von Kindern statt. So berichtet der 1887 im
sudetendeutschen Ort Michelsdorf geborene Gustav Linert – vielleicht durch
die Erinnerung leicht verklärt – in seinen Memoiren :
Zwischen den Dörfern herrschte bestes Einvernehmen und auch mit den Bewoh
nern der umliegenden tschechischen Gebiete war das Zusammenleben gut. Die
deutschen und tschechischen Bauern kannten damals noch keinen nationalen Haß
und die Zusammenarbeit war klaglos. Sie trachteten im Gegenteil das beiderseitige
Verständnis zu verbessern. Deutsche Familien schickten ihre Kinder ins »Tsche
chische«, wie man sich damals ausdrückte, und im Austausch kamen tschechische
Kinder ins »Deutsche«, um die Sprache zu lernen. Die Kinder fühlten sich bei den
deutschen bzw. bei den tschechischen Zieheltern heimisch […]. (Linert 1975 : 2)88
Es handelte sich hier demnach – im Unterschied zu den böhmischen und an
deren DienstbotInnen in den Großstädten – insofern um eine Subform des
»habitualisierten Übersetzens«, als es nicht – wie das zu besprechende »insti
tutionalisierte Übersetzen« – durch gesetzliche Bestimmungen geregelt war,
sondern wie das »habitualisierte Übersetzen« auf mehr oder weniger freiwillig
gewählten Funktionen beruhte. Der Unterschied zu den bisher diskutierten Bei
spielen des »habitualisierten Übersetzens« liegt darin, dass die »Übersetzungs«
Situation zumindest vordergründig nicht in asymmetrischen Kommunikations
beziehungen stattfindet – was schon durch die für den Austausch konstitutive
Reziprozität bedingt ist, auch wenn der »Wechsel« zuweilen zwischen sozial
unterschiedlich geschichteten gesellschaftlichen Gruppen stattfand – und in
keinem dokumentierten Fall einseitig zielkulturell orientiert ist, sondern durch
88 Vgl. eine ähnliche Situation in Berger (1994 : 43). Der 1838 in Mähren geborene František Berger
wurde als 13 Jähriger zu einem Bauern ins böhmische Nachbardorf geschickt, bevor er eine Aus
bildung als Orgelbauer in Wien aufnahm. Das Tauschkindsystem beschränkt sich keineswegs auf
den Raum der Habsburgermonarchie, sondern ist in weiten Teilen Europas dokumentiert. Flämi
sche Bauern schickten ihre Söhne zum Spracherwerb für ein bis zwei Jahre auf französischspre
chende Höfe in den benachbarten Provinzen Artois und Picardie und nahmen im Tausch deren
Söhne bei sich auf (Shorter 1983 : 42) ; ein anderes relativ weit verbreitetes Tauschkindersystem
ist aus dem Berner Land bekannt, wo vor allem besser gestellte ländliche Familien ihren Kindern
einen »Welschlandaufenthalt« ermöglichten, sie also zum Austausch in die französischsprachige
Schweiz schickten, um »Sprachkenntnisse und Gewandtheit« zu erlangen (Mesmer 1983 : 177).
Gleiches ist auch in Gyr (1982 : 223) dokumentiert, wo die »Gewohnheit, Kinder unter verschie
denen Kantonen auszutauschen, damit sie zwei Sprachen, deutsch und französisch, lernen« unter
die umfassende Kategorie der »Gegenseitsbräuche« gestellt wird.
Die vielsprachige Seele Kakaniens
Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Die vielsprachige Seele Kakaniens
- Untertitel
- Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
- Autor
- Michaela Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78829-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 442
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Dankesworte 11
- Einleitung 13
- Erstes Kapitel
- Zweites Kapitel
- Drittes Kapitel
- Viertes Kapitel
- Die translatorische Praxis in der »großartigen Versuchsstation« der Habsburgermonarchie 87
- »Habitualisiertes Übersetzen« 90
- »Institutionalisiertes Übersetzen« 103
- Kontakt zwischen Behörden und Parteien 120
- Dolmetschen und Übersetzen bei Gericht 128
- Die Übersetzung von Gesetzestexten 142
- Translationstätigkeit im Ministerium des Äußern und im
- Kriegsministerium 165
- Fünftes Kapitel
- Sechstes Kapitel
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- 1. Institutionalisierungstendenzen privater Übersetzung 202
- 2. Der private Übersetzungssektor als Schauplatz von
- Positionierungskämpfen 208
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- Siebtes Kapitel
- Achtes Kapitel
- Neuntes Kapitel
- 4. Folgerungen aus der Rekonstruktion des »translatorischen
- Zehntes Kapitel
- Der Vielvölkerstaat als Interaktionsfeld von Übersetzungsleistungen – Schlussbetrachtungen 362
- Verzeichnis der in der Habsburgermonarchie erschienenen Übersetzungen Italienisch – Deutsch 1848–1918 378
- Verzeichnis der Tabellen, Grafiken und Abkürzungen 392
- Tabellen 392
- Grafiken 393
- Abkürzungen 393
- Literaturverzeichnis 394
- Quellen 394
- Sekundärliteratur 396
- Sachregister 434
- Personenregister 437