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180 Die translatorische Praxis in der »großartigen Versuchsstation« der Habsburgermonarchie
Handelsbeziehungen und die Zunahme der Beziehungen zur Hohen Pforte in
Istanbul bzw. durch die daraus resultierende Einrichtung der dortigen ständigen
Vertretung, der Internuntiatur. Zunächst hatte man für die zu versehenden Dol
metschdienste auf die in Péra, dem (christlichen) Botschaftsviertel von Istanbul
lebenden »Griechen, Levantiner und Italiener« zurückgegriffen, die als Christen
den kaiserlichen Diplomaten auch sozial näher standen als ihren osmanischen
Herren. Einige dieser Dolmetscher fanden so zeitweise in osmanischen und kai
serlichen Diensten zugleich Verwendung (Müller 1976 : 258).168 Das mangelnde
Vertrauen, das diesen »unentbehrlichen Miethlingen« bzw. »ausländischen
Mischlingen« aufgrund ihres Dienstes gegenüber zweier Herren entgegenge
bracht wurde, löste den Ruf nach »eingeborenen Landeskindern« aus (Weiß von
Starkenfels 1839 : 2f.).169
Wie etwa zur gleichen Zeit Paris, entsandte auch Wien bereits seit 1674
»Sprachknaben« (»jeunes de langues«)170 nach Istanbul, damit diese dort im jun
gen Alter unter der Aufsicht des jeweiligen diplomatischen Missionschefs, der
von der Hofkammer für die Unterbringung und Verköstigung der Zöglinge ent
168 Im Osmanischen Reich hatten die Dolmetscher einen gehobenen gesellschaftlichen Status.
Manche Familien, wie jene der Köprülü, stellten zu Beginn des 18. Jahrhunderts eine einfluss
reiche Gruppe von Unternehmern, Gelehrten und Dolmetschern, von denen überliefert ist, dass
sie bei Verhandlungen als »Dolmetscher, Einflüsterer oder einfach als die besseren Kenner der
Materie hinter den offiziellen Würdenträgern« stünden (Herm 1993 : 225f.).
169 In Wien war man zu dieser Zeit gezwungen, für Dolmetschdienste auf »hiesige Levantiner«
zurückzugreifen, was ebenfalls nicht zu zufrieden stellenden Resultaten führte (Breycha
Vauthier
1980–1982 : 70). Auch in Preußen und anderen deutschen Staaten bediente man sich im auswär
tigen Dienst zunächst »ehrenwerter Männer aus einheimischen Familien« der Levante (Kreiner
1989 : 1). Im Bailato, dem Sitz des venezianischen Botschafters an der Hohen Pforte, herrschte
gegenüber den venezianischen Dolmetschern aufgrund ihrer Lebensumstände in Istanbul ebenso
Misstrauen (vgl. Lucchetta 1983 : 1). Heinrich Alfred Barb, der in den Achtzigerjahren des 19.
Jahrhunderts die Orientalische Akademie leitete und selbst als gerichtlich beeideter Dolmetscher
»für orientalische Sprachen« tätig war (Niederösterreichischer Amtskalender 1882 : 381), spricht im
Zusammenhang dieser Dolmetscher gar von »einer Schar levantinischer Abenteurer […], welche
nicht bloß die Rolle der Vermittler übernahmen sondern nahezu als die eigentlichen Vertreter
derselben fungierten« (Barb 1876 : 9).
170 Die ebenfalls verwendete Bezeichnung »enfants de langues« weist auf das zarte Alter hin, in dem
die Kinder oder Jugendlichen bereits entsandt worden ; vgl. dazu Pfusterschmid Hardtenstein
(1989 : 137, Anm. 49). Auch Venedig schickte im 17. und 18. Jahrhundert »giovini di lingua« an
die Hohe Pforte – die dann zu Dragomanen herangebildet wurden –, ebenso wie die Republik
von Dubrovnik, deren Dragomane im Ausbildungsstadium »mladici od jezika« genannt wurden
(Pederin 1998 : 98).
Die vielsprachige Seele Kakaniens
Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Die vielsprachige Seele Kakaniens
- Untertitel
- Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
- Autor
- Michaela Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78829-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 442
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Dankesworte 11
- Einleitung 13
- Erstes Kapitel
- Zweites Kapitel
- Drittes Kapitel
- Viertes Kapitel
- Die translatorische Praxis in der »großartigen Versuchsstation« der Habsburgermonarchie 87
- »Habitualisiertes Übersetzen« 90
- »Institutionalisiertes Übersetzen« 103
- Kontakt zwischen Behörden und Parteien 120
- Dolmetschen und Übersetzen bei Gericht 128
- Die Übersetzung von Gesetzestexten 142
- Translationstätigkeit im Ministerium des Äußern und im
- Kriegsministerium 165
- Fünftes Kapitel
- Sechstes Kapitel
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- 1. Institutionalisierungstendenzen privater Übersetzung 202
- 2. Der private Übersetzungssektor als Schauplatz von
- Positionierungskämpfen 208
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- Siebtes Kapitel
- Achtes Kapitel
- Neuntes Kapitel
- 4. Folgerungen aus der Rekonstruktion des »translatorischen
- Zehntes Kapitel
- Der Vielvölkerstaat als Interaktionsfeld von Übersetzungsleistungen – Schlussbetrachtungen 362
- Verzeichnis der in der Habsburgermonarchie erschienenen Übersetzungen Italienisch – Deutsch 1848–1918 378
- Verzeichnis der Tabellen, Grafiken und Abkürzungen 392
- Tabellen 392
- Grafiken 393
- Abkürzungen 393
- Literaturverzeichnis 394
- Quellen 394
- Sekundärliteratur 396
- Sachregister 434
- Personenregister 437