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Theoretischer Aufriss eines habsburgischen »Übersetzungsraumes« 199
bitus, eines der wichtigsten und vielschichtigsten Konzepte der bourdieuschen
Theorie.182
Wie Bourdieu ausführt, sind die Handlungen der AkteurInnen in den Feldern
gesellschaftlich determiniert, wobei das Dispositionssystem, in dem sie agieren,
als Habitus bezeichnet wird. Dieser wird als Produkt der Geschichte angese
hen, das »individuelle und kollektive Praktiken [produziert] […] ; er gewährleis
tet die aktive Präsenz früherer Erfahrungen, die sich in jedem Organismus in
Gestalt von Wahrnehmungs , Denk und Handlungsschemata niederschlagen
[…]« (Bourdieu 1991 : 101). Habitus ist nach Bourdieu keine Kategorie, die
ein planvolles Handeln (in welche Richtung auch immer) ermöglicht und äu
ßert sich damit auch nicht im Handeln der AkteurInnen im Feld, sondern ist
vielmehr »in der Gegenwart des Spiels angelegt«, also sein untrennbarer Teil.
Die Erkenntnis, dass der Habitus Handlungen, Wahrnehmungen und Beur
teilungen generiert, ist vor allem darauf zurückzuführen, dass er dem Körper
gleichsam »eingeschrieben« ist – allerdings einem Körper, der bereits durch Ge
schichte und Gesellschaft »zugerichtet«, also das Resultat zahlreicher Lern und
Konditionierungsprozesse ist. Der Habitus ist somit als (durch den Prozess der
Inkorporation) strukturiertes und (durch den Prozess der Generierung) struk
turierendes Prinzip zu konzipieren (Bourdieu 1998 : 145).
Die dargelegten Merkmale des Habitus signalisieren insofern einen Para
digmenwechsel im sozialwissenschaftlichen Denken, als sie eine Abkehr des
Konzepts vom »sozialen Handeln« implizieren, das »Handeln« als Resultat
bewusster Entscheidungen bzw. Abfolgen von Regeln postuliert. Neben dem
Prinzip der »Inkorporation« ist es vor allem der dem Habituskonzept inhärente
historische Charakter, der den (ahistorisch) vorgegebenen Regeln des »sozialen
Handelns« entgegensteht und vielmehr einen steten Wandel impliziert. Als so
zial konstruiertes System ist der Habitus schließlich eine generative Denkfigur,
die die gesellschaftlich konstituierten Dispositionen zu erfassen vermag (Krais/
Gebauer 2002 : 5) ; diesem Prinzip ist auch die kreative Kapazität des Habitus
eingeschrieben, durch die in neuen Situationen neue Verhaltensweisen generiert
werden.
Der übersetzerische Habitus ist als sekundärer Habitus zu verstehen, der
seine Ausprägung auf der Basis des von der Kindheit an sich ausformenden
primären Habitus und in relationaler Auseinandersetzung mit ihm erst sukzes
sive im Laufe des Berufslebens erhält. Hier kann an kritische Anmerkungen am
bourdieuschen Konzept des Habitus angeknüpft werden, die ihm vorhalten, dass
182 Vgl. zum Habituskonzept die ausgezeichnete Dissertation von Gisella Vorderobermeier (2011).
Die vielsprachige Seele Kakaniens
Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Die vielsprachige Seele Kakaniens
- Untertitel
- Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
- Autor
- Michaela Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78829-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 442
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Dankesworte 11
- Einleitung 13
- Erstes Kapitel
- Zweites Kapitel
- Drittes Kapitel
- Viertes Kapitel
- Die translatorische Praxis in der »großartigen Versuchsstation« der Habsburgermonarchie 87
- »Habitualisiertes Übersetzen« 90
- »Institutionalisiertes Übersetzen« 103
- Kontakt zwischen Behörden und Parteien 120
- Dolmetschen und Übersetzen bei Gericht 128
- Die Übersetzung von Gesetzestexten 142
- Translationstätigkeit im Ministerium des Äußern und im
- Kriegsministerium 165
- Fünftes Kapitel
- Sechstes Kapitel
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- 1. Institutionalisierungstendenzen privater Übersetzung 202
- 2. Der private Übersetzungssektor als Schauplatz von
- Positionierungskämpfen 208
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- Siebtes Kapitel
- Achtes Kapitel
- Neuntes Kapitel
- 4. Folgerungen aus der Rekonstruktion des »translatorischen
- Zehntes Kapitel
- Der Vielvölkerstaat als Interaktionsfeld von Übersetzungsleistungen – Schlussbetrachtungen 362
- Verzeichnis der in der Habsburgermonarchie erschienenen Übersetzungen Italienisch – Deutsch 1848–1918 378
- Verzeichnis der Tabellen, Grafiken und Abkürzungen 392
- Tabellen 392
- Grafiken 393
- Abkürzungen 393
- Literaturverzeichnis 394
- Quellen 394
- Sekundärliteratur 396
- Sachregister 434
- Personenregister 437