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Der Vielvölkerstaat als Interaktionsfeld von Übersetzungsleistungen – Schlussbetrachtungen 363
Dort heiratete er auch ein Fräulein Bobrzynski.
Seine Eheliebste gebar ihm einen Knaben. Sie machte das Polnische in der
Familie heimisch, pflegte aber nebenbei auch das Kroatische, weil ihre Mutter eine
Kroatin war, und hielt aus Liebe zu einem kernmagyarischen Großvater mit großer
Treue an einigen ungarischen Sprichwörtern fest.
Was sollte Vater Schneider antworten, wenn ihn einer überflüssigerweise nach
der Nationalität fragte ? Die Frage mußte an seinem Verständnis abgleiten.
Hatte er, der gewissenhaft geschulte Beamte der politischen Behörde in den
zahlreichen Erlässen, Verordnungen und Kundmachungen oder in dem Reichs-
gesetze je das Wort Nation oder Nationalität gefunden ? – Niemals und nirgends.
– Gab es demnach überhaupt »Nationen« in einem Vaterlande ? ! Weshalb sollten
diese Begriffe in seinem Kopfe rumoren ? Sie waren nicht paragraphiert – hatten
sie da überhaupt ein Recht zu sein und sich zu verkörpern ? – Man spricht irgend-
eine Sprache, die man eben gerade bei der Hand hat und braucht, wie man ißt und
trinkt, um Bauch und Gurgel zu beruhigen.
Ich sage damit nicht, daß Schneider mit Bewußtsein solche Betrachtungen an-
stellte. O nein ! Der Zwiespalt der Meinungen konnte nicht an ihn heran. Denn er
war und blieb der »Oesterreicher an sich«.
[…]
Die austro-ärarische Nation hat noch kein Ethnograph beschrieben ; in ihm
lebte sie mit ihrer fünf- bis sechssprachigen Seele, der Kraft zweckbewußter Ver-
kümmerung und gottgewollter, mild-abgeklärter Trottelhaftigkeit.
Fassungslos saß der k. k. Beamte Schneider einst vor einem Fragebogen der
Volkszählung, auf dem sich die rätselhafte Rubrik »Umgangssprache« befand. Das
unheimliche Wort »Nationalität« war ja wieder glücklich vermieden worden – aber
die Ausforschung nach der Umgangssprache lastete doch schwer auf ihm.
Wie sollte er antworten ? Zuhause sprach er polnisch und manchmal ein we-
nig deutsch ; mit Bekannten, Verwandten und im Amte beide Sprachen und auch
ruthenisch und rumänisch. Der Vorstand meinte, er könnte »polnisch« schreiben,
denn im Amte und im Kaffeehaus hat man keinen Umgang und daher auch keine
Umgangssprache – »weil sitzt man immär«. Herr Schneider wollte es jedoch mit
keiner Seite verschütten und schrieb deshalb in die Rubrik Umgangssprache :
»Neutral ! Ist sich nicht gleich, wechselt«.
Die Jahre vergingen, und die Schneiders nahmen einen glänzenden Aufstieg.
Schneider rückte in eine höhere Rangliste und erhielt in einer tschechischen Stadt
einen wesentlich erweiterten Wirkungskreis und natürlich eine noch höhere Be-
zahlung […].
Die vielsprachige Seele Kakaniens
Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Die vielsprachige Seele Kakaniens
- Untertitel
- Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
- Autor
- Michaela Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78829-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 442
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Dankesworte 11
- Einleitung 13
- Erstes Kapitel
- Zweites Kapitel
- Drittes Kapitel
- Viertes Kapitel
- Die translatorische Praxis in der »großartigen Versuchsstation« der Habsburgermonarchie 87
- »Habitualisiertes Übersetzen« 90
- »Institutionalisiertes Übersetzen« 103
- Kontakt zwischen Behörden und Parteien 120
- Dolmetschen und Übersetzen bei Gericht 128
- Die Übersetzung von Gesetzestexten 142
- Translationstätigkeit im Ministerium des Äußern und im
- Kriegsministerium 165
- Fünftes Kapitel
- Sechstes Kapitel
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- 1. Institutionalisierungstendenzen privater Übersetzung 202
- 2. Der private Übersetzungssektor als Schauplatz von
- Positionierungskämpfen 208
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- Siebtes Kapitel
- Achtes Kapitel
- Neuntes Kapitel
- 4. Folgerungen aus der Rekonstruktion des »translatorischen
- Zehntes Kapitel
- Der Vielvölkerstaat als Interaktionsfeld von Übersetzungsleistungen – Schlussbetrachtungen 362
- Verzeichnis der in der Habsburgermonarchie erschienenen Übersetzungen Italienisch – Deutsch 1848–1918 378
- Verzeichnis der Tabellen, Grafiken und Abkürzungen 392
- Tabellen 392
- Grafiken 393
- Abkürzungen 393
- Literaturverzeichnis 394
- Quellen 394
- Sekundärliteratur 396
- Sachregister 434
- Personenregister 437