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1. Einleitung
14 Jahrzehnten beteiligt war oder diese Aufarbeitung zur Kenntnis genommen hat , wird hier
kein klares Ja zur Antwort geben können. Aber selbst diesen sind die zahlreichen Beiträ-
ge von Mitgliedern des Wiener Kreises zu Moral und Ethik zumeist nicht ausreichend
bekannt. Zu sehr liegen deren Ausgangspunkte und Interessensblickwinkel in dieser Re-
vision auf dem Gebiet der Wissenschaftstheorie , und zwar Wissenschaft vornehmlich als
Naturwissenschaft verstanden , selten als Sozialwissenschaft und so gut wie nie als Geis-
teswissenschaft.2 Moral und Ethik werden , wenn überhaupt , nur am Rande erwähnt und
nur insofern in den Blick genommen , als diese für wissenschaftstheoretische Problemstel-
lungen von Belang scheinen. Auch wenn ohne Zweifel die Wissenschaftstheorie im Mit-
telpunkt des Interesses in den Zusammenkünften des Wiener Kreises und in der Bewe-
gung des Logischen Empirismus stand sowie ehemalige Mitglieder des Wiener Kreises
nach ihrer Emigration in die USA weiterhin grundlegende Beiträge auf diesem Gebiet
lieferten , so greift dieser Blickwinkel für die Wichtigkeit von Moral und Ethik im Wie-
ner Kreis zu kurz. Eine weniger beengte Neuaufarbeitung ist gefragt , eine Untersuchung
des historisch Geleisteten unter einer anderen Perspektive. Eine solche wird hier am Bei-
spiel der Mitglieder des Wiener Kreises vorgelegt. Es ist schließlich die Perspektive , wel-
che bestimmt , was in den Blick kommt und in Betracht gezogen wird. Die Fragen , die
sich nach der Rolle von Moral und Ethik sowie deren Inhalten im Wiener Kreis stellen ,
sind es wert , erneut untersucht zu werden. Sie sind nach wie vor sowohl aus einem histo-
rischen als auch aus einem systematischen Interesse heraus von hoher Relevanz.
Wer die Originalarbeiten aus dem Wiener Kreis studiert , findet häufig nicht , was ge-
mäß der üblichen Geschichtsschreibung und der Standardauffassung logisch-empiristi-
scher Ethik , wie ich sie in Kapitel 3 der vorliegenden Untersuchung näher erläutern werde ,
zu erwarten wäre. Diese Untersuchung soll mithin ein neues Verständnis davon eröffnen ,
wie es um Moral und Ethik im Wiener Kreis stand , und wie diese Befunde sich zur Stan-
dardauffassung verhalten. Sie wird sich mit den veröffentlichten philosophischen und wis-
senschaftlichen Arbeiten , welche der Ethik zuzuordnen sind , auseinandersetzen. Was wis-
sen wir , und was meinen wir lediglich zu wissen ? Um das , was veröffentlicht vorliegt ( oder
auch zu schreiben verweigert wurde ), angemessen zu verstehen und kritisch zu würdigen ,
braucht es jedoch neben einer Einbettung in den philosophischen und historischen Kon-
text
– sowohl den kulturellen als auch den gesellschaftspolitischen
– die Kenntnis einiger
persönlicher moralischer Einstellungen und Haltungen der Autoren sowie die Kenntnis
von deren Auffassung von Moral insgesamt. Diese Untersuchung wird deshalb die mo-
ralischen Einstellungen und Haltungen der Wiener-Kreis-Mitglie der darlegen , insofern
sie für die philosophischen / wissenschaftlichen Arbeiten mit Bezug zur Ethik und für das
Selbstverständnis des Wiener Kreises von Bedeutung sind.
Ich werde in der vorliegenden Untersuchung zwischen Moral und Ethik unterschei-
den. „Moral“ meint im Folgenden eine Lebenspraxis , in der nach bestimmten Maßstä-
2 Vielen gilt wohl schon diese Unterscheidung als Sakrileg.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441