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1.2 Der Wiener Kreis
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hatten ( siehe Uebel 2008 ), wurde das Geleitwort im Namen des Vereins von Hahn , Neu-
rath und Carnap unterzeichnet.
Diese Schrift wird gemeinhin als Programmschrift bzw. Manifest des Kreises verstan-
den , weil sie in Manier eines politischen oder künstlerischen Manifestes , das sowohl Vor-
bilder als auch Gegnerinnen und Gegner benennt , den Zusammenhalt nach innen anlei-
ten und der Kommunikation des Selbstverständnisses nach außen dienen soll. Es wird in
ihr aufgerufen , der herkömmlichen Philosophie abzuschwören und diese durch eine wis-
senschaftliche Weltauffassung zu ersetzen. Vor allem sollte der „metaphysische und theo-
logische Schutt der Jahrtausende aus dem Weg geräumt werden“ ( Neurath / Hahn / Carnap
1929 [ 2006 , 26 ]). Man sah sich selbst in der Tradition des britischen Empirismus und der
französischen Aufklärung , aber auch rationalistischer Philosophien wie jener Bernard
Bolzanos oder Franz Brentanos. Und nicht zuletzt jener Ernst Machs.
Im Vorwort der Programmschrift wird darauf hingewiesen , der Wiener Kreis bestehe
aus Menschen gleicher wissenschaftlicher Grundeinstellung. Trotz ursprünglich verschie-
dener Wissenschaftszweige und philosophischer Einstellungen sei es zunehmend zur Ein-
heitlichkeit gekommen. Nicht nur das , sondern :
[ … ] bei Meinungsverschiedenheiten ist schließlich eine Einigung möglich , daher auch ge-
fordert. ( Neurath / Hahn / Carnap 1929 [ 2006 , 9 f. ])
Ein für den Wiener Kreis wahrlich gewagter Schluss vom Sein aufs Sollen.
Die wissenschaftliche Weltauffassung im engeren Sinne ( vgl. das Neurath-Kapitel der
vorliegenden Untersuchung ) als Ausrichtung in der Philosophie wurde vor allem als eine
Verbindung von Empirismus bzw. Positivismus und logischer Analyse charakterisiert. In
der logischen Analyse ging es um die Zurückführung wissenschaftlicher Aussagen auf
das empirisch Gegebene mit einer Absage an synthetische Erkenntnisse a priori. Ziel
der logischen Analyse sei es , die Struktur wissenschaftlicher Erkenntnis herauszuarbei-
ten und noch versteckte Reste von metaphysischen Vorstellungen zu eliminieren. ( Neu-
rath / Hahn / Carnap 1929 [ 2006 , 14 ff. ])
Neben philosophischen sind in der Programmschrift moralisch-politische Fragen von
zentraler Bedeutung : Es wurde eine rationale Umgestaltung der Gesellschafts- und Wirt-
schaftsordnung gefordert. Dabei wurde die Verwandtschaft mit anderen Bewegungen he-
rausgehoben , insbesondere der Volksbildungsbewegung und reformpädagogischen Bewe-
gungen. Der Zusammenhang mit Austromarxismus und der österreichischen Schule der
Nationalökonomie wird herausgestellt. Der Text endet mit folgender pathetischer Passage :
Freilich wird nicht jeder einzelne Anhänger der wissenschaftlichen Weltauffassung ein
Kämpfer sein. Mancher wird , der Vereinsamung froh , auf den eisigen Firnen der Logik ein
zurückgezogenes Dasein führen ; mancher vielleicht sogar die Vermengung mit der Mas-
se schmähen , die bei der Ausbreitung unvermeidliche „Trivialisierung“ bedauern. Aber auch
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441