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1. Einleitung
24 ßen Teil der Mitglieder des Wiener Kreises , insbesondere von Carnap , Neurath , Frank
und Hahn , vertreten. ( Mormann 2000 , 66 f. ) „Metaphysikkritik hieß“, so Mormann wei-
ter , „auch Selbstkritik“. Besonders Neurath beschuldigte „bei passenden und weniger pas-
senden Gelegenheiten“ „fast alle Mitglieder der Gruppe , insbesondere Schlick und Wais-
mann , gelegentlich aber auch Carnap , metaphysischer Verfehlungen der verschiedensten
Art“ ( Mormann 2000 , 76 ), worauf ich im Neurath-Kapitel näher eingehen werde. Die be-
kannteste Episode der internen Metaphysikkritik bildet die „Protokollsatzdebatte“, in der
sogar Carnaps Aufbau als metaphysisch kritisiert wurde. So wurde letztlich , so Mormann ,
die Frage , was nun „genau unter Metaphysik zu verstehen sei , [ … ] im Wiener Kreis nie-
mals endgültig beantwortet“ ( Mormann 2000 , 77 ).15 Was die Idee der Einheitswissenschaft
anbelangt , parodierte wiederum Hahn diese Idee Neuraths als „Einheizwissenschaft“, was ,
so Neurath in einem Brief an Carnap , Schlick sehr entgegenkam ( Neurath an Carnap ,
16. Juni 1945 , Nachlass Neurath , Inv.-Nr. 223 ).
Die Gemeinsamkeiten lagen nur im sehr Grundlegenden. Gemeinsam war der Kampf
gegen Irrationalismus sowie eine methodische Ausrichtung an sprachlicher Klarheit ,
Nachvollziehbarkeit der Argumentation , moderner mathematischer Logik und die Un-
terteilung von Problemen in Einzelfragen , wobei selbst hier große Unterschiede in der
Ausprägung zu verzeichnen sind. ( Hilgendorf 1998b , 379 ff. ) Selbst was die Logik anbe-
langt , gab es weder eine einheitliche Auffassung darüber , was sie sei , noch darüber , wel-
che Rolle sie in der Philosophie zu spielen hätte. ( Richardson 1996 , 9 ) Eric Hilgendorf ,
der 1998 eine differenzierte Textsammlung zur Moral- und Rechtsphilosophie des Logi-
schen Empirismus herausgab , betont nicht zuletzt die gemeinsame Forderung nach intel-
lektueller Redlichkeit. ( Hilgendorf 1998b , 381 ) Gemeinsam sei den Logischen Empiris-
tinnen und Empiristen die Zurückweisung der Philosophie als einer Überwissenschaft ,
die den „Wissenschaften die Bestimmung der Begriffe ‚Erkenntnis‘ und ‚Rechtfertigung‘
vorgibt und ihren Erkenntnisansprüchen einen cartesianischen Maßstab anlegt“. Jenseits
dieser Gemeinsamkeit „schieden sich die Geister“ ( Uebel 2000 , 13 f. ). Bergmann schreibt :
Mag sein , daß diese Entwicklung dem Ablauf des Sedimentationsprozesses , dessen Ergebnis
man eine „Weltanschauung“, eine „philosophische Haltung“ nennt , bei mir eher förderlich
gewesen ist , und in diesem Sinne möchte ich nach wie vor gerne als ein Mitglied des „Wie-
ner Kreises“ gelten. ( Bergmann 1936 [ 2006 , 633 ])
15 „Wenn Sie sagen , Metaphysik ist alles das an Annahmen und Spekulationen , was über das Erfahrungs-
gegebene hinausgeht , aber sich rational begründen läßt ( wie die Existenz von Atomen ), so ist das ein
Begriff der Metaphysik , der noch gar nicht außerhalb der Wissenschaft fällt. Wenn Sie aber Meta-
physik definieren als das , was wissenschaftlich grundsätzlich unbegründbar ist , was bloße Spekulation
oder Dogmatik ist , dann ist natürlich Metaphysik etwas , das man ablehnen muß , das man dem blo-
ßen Glauben überlassen kann und das jedenfalls keine Erkenntnis ist.“ ( Kraft in Rutte / Acham / Göt-
schl / Payer 1973 , 14 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441