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1. Einleitung
34 entierte Erbe ohnehin verloren.30 In seiner Eröffnungsrede des Wittgenstein-Symposions
1981 mit dem Titel „Vom dritten bis sechsten ( siebten ? ) Dogma des Empirismus“ bemän-
gelte Stegmüller die Vernachlässigung der Ethik.31 Lediglich zwei seiner Schüler habili-
tierten sich mit ethischen Arbeiten : 1972 Norbert Hoerster ( Utilitaristische Ethik und Ver-
allgemeinerung ) und 1989 Julian Nida-Rümelin ( Der Konsequentialismus – Rekonstruktion
und Kritik ). Dies wurde jedoch als Öffnung im Zuge einer sich formierenden Angewand-
ten Ethik und nicht als Wiederaufnahme verlorener Kontexte und philosophischer Ar-
beitsgebiete in der eigenen Schultradition gesehen.32
Im sogenannten Positivismusstreit am Ende der 1960er-Jahre standen zwar das empi-
ristische Sinnkriterium und der Nonkognitivismus als ( vorgebliche ) Kernpositionen des
Wiener Kreises im Zentrum der Auseinandersetzungen. Streitparteien waren aber nun-
mehr die Frankfurter Schule und Popper. ( Stöltzner / Uebel 2006b , XCI )33 Der histori-
sche Wiener Kreis spielte keine Rolle , auch dessen Moral und Ethik nicht. ( Siehe hierzu
Kapitel 3 der vorliegenden Untersuchung. )
In Österreich war der historische Kontext des Wiener Kreises auch nach dem Zweiten
Weltkrieg noch bekannt. In Wien , wo die früheren Gegner des Wiener Kreises und de-
ren Schüler die akademische Philosophie beherrschten , war der Wiener Kreis jedoch ein
„Unthema“. ( Stöltzner / Uebel 2006b , XCI )34 So ging auch die später einsetzende Rezep-
tion der Wissenschaftstheorie des Wiener Kreises von den „Provinzuniversitäten“ Inns-
bruck , Salzburg und Graz aus. Seitdem stellen historische Forschungen den Wiener Kreis
in die Tradition des Roten Wien und des Fin de siècle , wodurch der Kreis als ein Strang
in der Erneuerung der Aufklärung verstanden wurde. Zudem wurde der Wiener Kreis
unter dem Blickwinkel einer genuin österreichischen Philosophie untersucht , wie bereits
oben erwähnt. In neueren Untersuchungen , v. a. zu Carnap , werden jedoch wieder die Be-
züge zur deutschen Philosophie herausgestrichen.35 Auch die Verbindungen zum Bauhaus
30 Zu den Gründen hierfür siehe Reisch 2005. Reisch sieht den Verlust der politischen Ausrichtung dem
Kalten Krieg und der McCarthy-Ära in den USA geschuldet.
31 Stegmüller hat wenig über Ethik geschrieben. Ein Beitrag „Ethik und Wirtschaftspolitik“ ( Stegmüller
1955 ) wurde in der Zeitschrift Besinnung. Zeitschrift für Fragen der Ethik veröffentlicht. Diese Zeitschrift
wurde von der Gesellschaft für Ethische Kultur von 1954 bis 1956 herausgegeben ( insgesamt 6 Hefte ). Da-
rin betont Stegmüller , dass eine Wirtschaftsethik ökonomisches Fachwissen benötigt und Anhänge-
rinnen sowie Anhänger einer freien Marktwirtschaft und einer Planwirtschaft „in ihren Einstellungen
gegenüber Endzielen und deren Rangordnung völlig konform sein“ können. ( Stegmüller 1955 , 3 )
32 Zu politischen Themen ist von Stegmüller nur ein Aufsatz zur Nachrüstung ( Stegmüller 1987 ) erschie-
nen. Näheres zu Stegmüllers Zurückhaltung gegenüber öffentlichen Kontroversen siehe Dahms ( 2010 ,
318 ff. ).
33 Poppers Logik der Forschung trug übrigens im Original von 1935 den Zusatztitel : Zur Erkenntnistheorie
der modernen Naturwissenschaft. Es ging also ausdrücklich nicht um Wissenschaften allgemein.
34 Vgl. z. B. Haller „Die philosophische Entwicklung im Österreich der Fünfzigerjahre“ in Haller 1986.
35 Seit den 1970er-Jahren wird u. a. von Michael Friedman , Don Howard und Alan Richardson eine ver-
kürzte Interpretation infrage gestellt und aufgebrochen. ( Stöltzner / Uebel 2006b , XCIV )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441