Page - 56 - in Ethik und Moral im Wiener Kreis - Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Image of the Page - 56 -
Text of the Page - 56 -
3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch-empiristischer Ethik
56 Lieber Herr Horkheimer !
Bitte lassen Sie mir mein Manuskript zusenden.
Mit bestem Gruß
Ihr Otto Neurath.
( Neurath an Horkheimer , 21. Februar 1938 , Universitätsbibliothek Frankfurt a. M. / Archiv-
zentrum : Na1 I / 19 ; zit. n. Dahms 1994 , 181 )
Zu diesem Zerwürfnis kam es , obwohl Horkheimer das persönliche Verhalten der Logi-
schen Empiristinnen und Empiristen im „Angriff“ ausdrücklich anerkannt hatte :
Ebenso wie Ernst Mach ein fortschrittlicher Mensch gewesen ist , so haben sich viele Mit-
glieder des Wiener Kreises für freiheitliche Ziele eingesetzt. Nach ihrer Doktrin ist das zu-
fällig , sie bietet so wenig ein Gegenmittel gegen politischen wie gegen spiritistischen Aber-
glauben. ( Horkheimer 1937 , 49 f. )
Horkheimer bestand jedoch ausdrücklich darauf , zwischen den ehrenwerten Haltungen
einzelner Positivistinnen oder Positivisten und der reaktionären Funktion ihrer Philoso-
phie strikt zu trennen. ( Dahms 1994 , 147 ) Er attestierte den Mitgliedern des Wiener Krei-
ses also hohe persönliche moralische Lauterkeit bei gleichzeitiger philosophischer Inad-
äquatheit und gesellschaftspolitischer Naivität und Blindheit.
Worauf schon der unmittelbare Anlass , nämlich die Vorträge Neuraths in New York ,
hindeuten mögen , ist die Tatsache , dass Frankfurter Schule und Wiener Kreis sich vordem
nicht feindlich gegenüberstanden. Es hatte eine Reihe sachlicher und politischer Berüh-
rungspunkte ,53 sogar Planungen zu Kooperationen54 gegeben. Sowohl Horkheimer als auch
Adorno hatten bei Hans Cornelius , einem der wenigen Anhänger Machs in Deutsch-
land , promoviert. ( Dahms 1994 , 22 ) Sie standen dem Neopositivismus also einmal durch-
53 Reichenbach und Benjamin kannten sich übrigens schon aus der Berliner Ortsgruppe der Freistuden-
tenschaft. ( Dahms 1994 , 61 ; siehe das Carnap-Kapitel der vorliegenden Untersuchung ) 1928 lud Hork-
heimer Reichenbach zu einem Vortrag über „Gegenwärtige Probleme der Naturphilosophie“ nach
Frankfurt ein. Auch andere Mitglieder der Berliner Gesellschaft für wissenschaftliche Philosophie ( z. B.
Karl Korsch , Walter Dubislav ) wurden zu Vorträgen eingeladen. ( Dahms 1994 , 64 f. )
54 Horkheimer plante von New York aus eine Zusammenarbeit zwischen seinen europäischen For-
schungsstellen , der Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle Marie Jahodas in Wien und dem
Mundaneum Institut in Den Haag , an dem Neurath seine Arbeiten nach der Schließung seines Ge-
sellschafts- und Wirtschaftsmuseums in Wien fortführte. Die Kooperationen kamen aus unterschied-
lichen Gründen nicht zustande. Jahoda war jedoch in den Sammelband Autorität und Familie einge-
bunden , und Horkheimer bemühte sich um ihre berufliche Zukunft. Nach Jahodas Emigration in die
USA beteiligte er sie sofort an den berühmten Studies in Prejudice. Pollok war eher persönlich an ihr
interessiert und wollte sie nach der Scheidung von Lazarsfeld heiraten. ( Siehe dazu ausführlich Dahms
1994 , Abschnitt 3.1 ) Jahoda , Lazersfeld und Hans Zeisel betonten wiederholt den Einfluss Neuraths
auf ihre Arbeit. ( Sandner 2006 , 255 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441