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3.2 Die Rezeption in der Frankfurter Schule und im Positivismusstreit
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aus nahe. Insbesondere ein empiristisches Sinnkriterium wollte Horkheimer nicht aufge-
ben. ( Dahms 1994 , 55 )
Zur Zeit des Nationalsozialismus hatte Cornelius jedoch ein zwiespältiges Verhältnis
zum Regime und lobte 1935 insbesondere den Völkischen Beobachter. Dieser Kniefall des
Positivisten Cornelius vor den Nationalsozialisten passe laut Dahms viel besser zu Hork-
heimers Positivismuskritik von 1937 als „das Verhalten sämtlicher in dieser Kritik erwähn-
ten Positivisten des Wiener Kreises zum Faschismus“ ( Dahms 1994 , 25 , Fn. 25 ). Adorno
selbst hatte einen Antrag auf Aufnahme in Goebbels’ Reichsschrifttumskammer gestellt ,
wurde jedoch als „Nicht arier“ abgelehnt. ( Wiggershaus 2006 , 21 f. )
Den eigentlichen Motivationsgrund für die Heftigkeit des „Angriffs“ bei aller inhaltli-
chen Gemeinsamkeit vermutet Dahms darin , dass gerade die thematischen Gegenstände ,
um die es den Frankfurtern ging , im Logischen Empirismus dem Irrationalismus preis-
gegeben würden.55 Schon am 22. Oktober 1936 hatte Horkheimer in dieser Angelegenheit
an Adorno geschrieben , es würden „alle Sphären der Kultur“
schamlos [ … ] dem Irrationalismus preisgegeben [ werden ]. Nichts anderes kann es ja bedeu-
ten , dass nur diejenigen Gedanken als Erkenntnis gelten dürfen , die mit den Mitteln der mo-
dernen Logik auszudrücken sind. Da sich nun aber immer deutlicher herausstellt , dass man
damit im Grunde überhaupt nichts ausdrücken kann , so enthüllt sich das ganze schliess-
lich als der Kampf gegen die Anwendung des Denkens auf Gesellschaft und Geschich-
te überhaupt. ( Horkheimer an Adorno , 22. Oktober 1936 , Universitätsbibliothek Frankfurt
a. M. / Archivzentrum : Na1 VI / 1 , 68 )
Die Stichhaltigkeit des Arguments hängt natürlich von der Leistungsfähigkeit der Logik
ab. Insbesondere lag hier die Kompetenz auf dem Gebiet der Normenlogik zur Zeit der
Auffassung dieses Briefes noch nicht sehr hoch.
Horkheimer sah sich also im Camp der durch die Logischen Empiristinnen und Em-
piristen Diffamierten. Am Ende des „Angriffs“ heißt es :
55 Zudem erwähnt Dahms folgende Bemerkung aus dem Briefwechsel : „Der Zauber ist letzten Endes
auf akademische Positionen und ordentliche Lehrstühle aus.“ ( Horkheimer an Adorno , 22. Februar
1937 , Universitätsbibliothek Frankfurt a. M. / Archivzentrum : Na1 VI / 1 , 252 ) Dahms tut diesen „wis-
senschaftlichen und akademischen Futterneid“ als unbegründet ab , da die Historikerinnen und Histo-
riker sowie Soziologinnen und Soziologen des Wiener Kreises im Exil nicht bessere Chancen gehabt
hätten als die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Horkheimers. ( Dahms 1994 , 141 ) Dies ist meines Er-
achtens nicht so eindeutig. Wenn nicht Neurath und Zilsel als Zentrum des Logischen Empirismus
gesehen werden , sondern die Physiker / innen , Mathematiker / innen und Theoretiker / innen der Na-
tur- und Formalwissenschaften , so hatten diese es im Exil leichter. Sie waren es auch , die sich letzt-
lich etablieren konnten. Wer sich als mit ihnen im Bunde empfehlen konnte , hatte vermutlich höhere
Chancen. Nicht zuletzt war es auch eine Frage der akademischen Position im Heimatland. Wer dort
( aus welchen Gründen auch immer ) nicht an einer Universität positioniert wurde , hatte es auch im
Exil schwer.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441