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3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch-empiristischer Ethik
60 Gab es vielleicht zwar persönliches Engagement und die Hoffnung einiger , die Wissen-
schaft diene indirekt einer aufklärerisch-humanistisch-sozialistischen Gesellschaftsent-
wicklung , aber gleichzeitig keine fachliche Auseinandersetzung mit Moral ? Gab es hier in
ihrer Philosophie keine Integration der Lebensführung ? Dahms hält Horkheimers Kritik ,
die praktischen Aktivitäten und Äußerungen der Logischen Empiristinnen und Empiris-
ten seien nicht in ihre Philosophie integriert , durchaus für berechtigt. ( Dahms 1994 , 116 )
Wie viel in den Zusammenkünften des Wiener Kreises nun auch immer über Moral
und Ethik diskutiert wurde , so steht fest , dass diese in publizierten Werken thematisiert
wurden. Auf Äußerungen in diesen publizierten Werken basiert jedenfalls die Annahme
einer spezifisch logisch-empiristischen Ethik , der gemäß Wert- und Normsätze ( theore-
tisch-kognitiv ) sinnlos seien. Dies wird mit zwei Grundannahmen untermauert , die als fi-
xer Bestandteil des ( frühen ) Logischen Empirismus gesehen werden. Rainer Hegselmann ,
der sich in der Neuaufarbeitung des historischen Wiener Kreises hohe Verdienste erwor-
ben hat ,59 führt sie folgendermaßen aus :
1. Erkenntnis kann nur durch Erfahrung gewonnen werden.
( Basis theorem )
2. Man kann zwischen sinnvollen Sätzen , die wahr oder falsch sind , und sinn-
losen Scheinsätzen , die nur die grammatische Form sinnvoller Sätze imitieren ,
unterscheiden. „Wahr“ und „falsch“ sind dabei Prädikate , die nur auf empirische
und analytische Sätze angewandt werden können.
( Sinntheorem )
( Hegselmann 1984 , 14 f. )
Eine besondere Rolle in dieser Darstellung spielt das Sinnkriterium. Dieses geht in allen
seinen Versionen , die im Wiener Kreis vorgeschlagen wurden , auf Wittgensteins Trac-
tatus logico-philosophicus zurück ( Morscher 2001 , 49 ), wobei entscheidende Passagen in
Schlicks Allgemeiner Erkenntnislehre nicht zu vernachlässigen sind. Es geht dabei um die
Frage , unter welchen Bedingungen ein Satz als sinnvoll betrachtet werden kann. Im Trac-
tatus heißt es :
6.41 Der Sinn der Welt muß außerhalb ihrer liegen. In der Welt ist alles wie es ist und ge-
schieht alles wie es geschieht ; es gibt in ihr keinen Wert – und wenn es ihn gäbe , so
hätte er keinen Wert.
59 Das deutsche Interesse am historischen Wiener Kreis ist vor allem der Wiederentdeckung der politi-
schen Dimension des Wiener Kreises , nicht zuletzt durch Hegselmann , geschuldet. ( Uebel 1991b , 13 )
Ich stimme übrigens mit Hegselmann dahingehend überein , praktische Rationalität in der Moral sei
nur durch eine gemeinsame Begründungspraxis möglich. ( Siehe Hegselmann 1979 , 202 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441