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4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements
72 Unser Sittengesetz ist autonom , soweit die Menschheit , heteronom , soweit der einzelne in Be-
tracht kommt. Dem Individuum steht die Gesamtheit als Autorität gegenüber , vor der er
sich zunächst gezwungen beugt , um sich dann freiwillig als ihren Teil zu fühlen und in ih-
rem Dienste sein eigenes GlĂĽck zu finden. ( Jerusalem 1913 , 284 f. )
Die Soziologie tritt bei Jerusalem in den Dienst der Moral , da diese darüber aufklären
könne , inwiefern eine bestimmte Gesellschaftsordnung es überhaupt ermögliche , mora-
lisch zu leben. ( Jerusalem 1913 , 287 ) Im Unterschied zu Carneri und Jodl war Jerusalem je-
doch zurĂĽckhaltender , was die Konfrontation mit der katholischen Kirche anbelangt. ( Ue-
bel 2000 , 293 )80 War er doch selbst Rabbiner.
Die Volksbildungsbewegung strebte wie der Verein Freie Schule von Karl Seitz und Otto
Glöckel ( Uebel 2000 , 294 f. )81 eine Erziehung zur Eigenverantwortung und zum selbst-
ständigen Denken an. Jerusalem , der viele Jahre lang als Gymnasialprofessor tätig gewe-
sen war , sah die Aufgaben des Gymnasiums folgendermaĂźen :
Erziehung zur selbstständigen geistigen Arbeit durch Vermittlung wissenschaftlicher Bil-
dung.[ … ] Wissenschaftliche Bildung besteht [ … ] in der durch die Erwerbung positiver
Kenntnisse entwickelte Schulung des Geistes , die den jungen Mann fähig macht , frem-
80 Schlick , der Jerusalem nur zwei Semester zum Kollegen hatte , jedoch dessen humanistische Werte
teilte , lieferte fĂĽr die Neue Freie Presse 1928 zum fĂĽnften Todestag Jerusalems einen Beitrag. Schlick
kommt darin auch auf die viel besuchten Vorlesungen zur Einleitung in die Philosophie , die Jerusa-
lem ab 1892 /93 in jedem zweiten Wintersemester hielt , zu sprechen. Bemängelt wird von Schlick hin-
gegen Jerusalems psychologische und soziologische Herangehensweise an Fragen der Logik und Er-
kenntnistheorie. ( Schlick 1928 [ 2008 , 137 f. ]) Jerusalem selbst schrieb eine Reihe feuilletonistischer
Beiträge für die Neue Freie Presse , die später mit einigen weiteren Beiträgen unter dem Titel Gedan-
ken und Denker in zwei Bänden in Buchform erschienen ( Jerusalem 1905a und Jerusalem 1925 ). Unter
den 1905 veröffentlichten Beiträgen findet sich „Philosophische Begabung der Frauen“, ein bis dahin
nicht im Druck erschienener Vortrag von 1900. Darin fĂĽhrt Jerusalem eine Reihe von Philosophin-
nen an ( Hypatia , Sophia Germain , Christine von Schweden , Harriet Taylor-Mill , Clotilde de Vaux
usw. ), die fĂĽr ihn einen Zweifel an der philosophischen Begabung von Frauen als unbegrĂĽndet erwei-
sen. Nichtsdestoweniger hält Jerusalem an einem Geschlechteressenzialismus fest : „Ein philosophi-
sches System will nicht nur mit dem Verstande erfaßt , es will auch gefühlt sein. Diese Fähigkeit be-
sitzt nur das Weib. Sie vermag eine Weltanschauung mit dem Herzen zu erfassen und zum GefĂĽhl zu
entwickeln. [ … ] Die Fähigkeit selbstloser Hingabe bewirkt endlich , daß die Frau , die einmal sich eine
Weltanschauung angeeignet hat , dieser treu bleibt , sich ihr ganz hingibt und dadurch zu ihrem Apo-
stel wird.“ ( Jerusalem 1905b , 271 f. )
81 Die Programmschrift weist auch auf diese Schulreformbewegung hin , mit der sich der Verein Ernst
Mach laut Programmschrift im gleichen Geiste weiĂź. ( Neurath / Hahn / Carnap 1929 [ 2006 , 6 ]) Be-
sonders engagiert waren in der Glöckel’schen Schulreformbewegung , die nun wiederum jedoch sozi-
aldemokratisch ausgerichtet war , Hahn , Zilsel und Neurath. Wie die liberale und sozialdemokratische
Volksbildungsbewegung wollte auch diese zur Humanisierung und Demokratisierung der Gesellschaft
beitragen. ( Vgl. Stadler 1985 , 125 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale MoralbegrĂĽndung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 MoralbegrĂĽndung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 MoralbegrĂĽndung auf Grundlage natĂĽrlicher Ziele : Rationale MoralbegrĂĽndung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische MoralbegrĂĽndung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und BĂĽrgerinnen oder BĂĽrger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukĂĽnftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- AbkĂĽrzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441