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4.3 Engagement in überparteilichen Organisationen
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Untersuchung von besonderem Interesse war Goldscheid darüber hinaus Mitglied in der
Ethischen Gemeinde. ( Stadler 1982a , 155 )85
Zahlreiche Mitglieder des Wiener Kreises standen dem Monistenbund nahe bzw.
konnten dort ihre gemeinsame Basis finden. Als Referenten im Monistenbund traten
Schlick , Neurath und Feigl auf. Schlick referierte 1921 vor dem Deutschen Monistenbund
über den Sinn des Lebens. Aus dem Vortrag ging 1927 eine gleichnamige Publikation her-
vor , auf die ich im Schlick-Kapitel ausführlicher zu sprechen kommen werde. Zudem wur-
de seine Allgemeine Erkenntnislehre ( 1918 ) als wissenschaftliche Begründung für eine mo-
nistische Lebenseinstellung betrachtet. ( Stadler 1997a , 216 ) Neurath war 1923 und 1925 im
Vortragsprogramm angekündigt , und zwar über „Gott in der Geschichte“. ( Stadler 1982a ,
158 ) Neurath stand sowohl den Monistinnen und Monisten als auch den Freidenkerinnen
und Freidenkern insgesamt jedoch zunehmend skeptisch gegenüber :
Es ist kein erfreulicher Anblick , wenn die modern aufgeputzten Lehren der Halbtheologen
und Schulphilosophen von Freidenkern , Monisten und anderen Gegnern mit altmodischen
Argumenten bekämpft werden , die vor einer Generation schon recht matt und lahm waren.
Oft verläuft eine Auseinandersetzung zwischen modernisierter Reaktion und altmodischem
Freidenkertum so , daß der eine den Bock melkt , der andere aber das Sieb unterhält.
( Neurath 1932 [ 1981b , 573 ])
Die altmodischen Freidenkerinnen und Freidenker im Monistenbund würden der Wirk-
samkeit einer modernen Bekämpfung von metaphysischen Lehren , die hier wohl gemeint
waren , also nichts hinzufügen oder sogar deren Wirkung einschränken , indem sie sie ins
Leere laufen ließen. Feigl , der der Sozialdemokratie ferner und auch philosophisch Schlick
viel näher stand , wie in den Kapiteln über diese ausführlich zu lesen sein wird , referier-
te hingegen noch 1930 über „Naturgesetz und Willensfreiheit“ im Monistenbund. ( Stad-
ler 1997a , 217 )
Stadler betont einerseits die Überlappung von wissenschaftlicher Weltauffassung und
Monismus , weist aber auch darauf hin , dass der Wiener Kreis den modernsten Stand
der Naturwissenschaften und der Mathematik sowie Logik berücksichtigt und damit die
populärwissenschaftliche Fundierung des Monismus überwunden habe. Jedenfalls führt
Carnap ( ebenso wie Popper ) den Monismus als Ausgangspunkt und Motivationshinter-
grund für seine intellektuelle Entwicklung an. ( Stadler 1997a , 217 f. ) Im Unterschied zum
Freidenkerbund war der Monistenbund weniger an die sozialdemokratische Partei ange-
bunden.
85 Goldscheid gründete 1909 in Berlin mit Georg Simmel , Ferdinand Tönnies und Max Weber die Deut-
sche Gesellschaft für Soziologie. Zu Goldscheid siehe jüngst Rudolf Goldscheid. Finanzsoziologie und ethi-
sche Sozialwissenschaft von Wolfgang Fritz und Gertraude Mikl-Horke 2007.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441