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5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus
98 grund ihrer Herkunft oder politischen Überzeugung nicht in eine der elitären Korporatio-
nen aufgenommen wurden oder werden wollten. Es handelte sich dabei um die rasch wach-
sende Zahl Studierender aus der vorwiegend protestantischen Mittelschicht , für die Bildung
das Mittel zum sozialen Aufstieg war , und Studentinnen , die lange Zeit von der Mitbestim-
mung in den studentischen Gremien ausgeschlossen waren , da diese von den traditionellen
Korporationen dominiert wurden.132 Als Studierende „zweiter Klasse“, so Werner , „waren sie
in der traditionalistischen Universitätshierarchie trotz zahlenmäßiger Überlegenheit sozi-
al und rechtlich marginalisiert“ ( Werner 2003 , 242 ). Die Freistudentinnen und -studenten
stellten den Anspruch auf Modernisierung und Demokratisierung deutscher Hochschulen ,
sie standen für Fortschritt und moderne Lebensweise.133 Die Korpsstudenten hingegen ver-
körperten eine unzeitgemäße Lebensform und Denkweise. ( Werner 2003 , 234 ff. ) Die ei-
nen waren Abstinenzlerinnen oder Abstinenzler , die anderen betranken sich häufig. Der
freideutschen Studentenschaft galten Alkohol , Kaffee und Tabak als bürgerliche Drogen :
And its practice of abstinence expresses not an ascetic abnegation , but on the contrary an af-
firmative celebration of the senses , with the goal of a comprehensive reconstruction of life on
a “natural” basis , in the sense of the Jugendbewegung ( youth movement ). ( Gabriel 2004 , 8 )134
Carnap hielt sich ein Leben lang daran , wie Quine in seiner Laudatio zum 100. Geburts-
tag Carnaps bemerkt :
Geregelte Tageseinteilung , regelmäßige Bewegung , keinen Kaffee , Tabak , Alkohol [ … ] Man
könnte meinen , daß sich diese Strenge sowie sein antimetaphysischer Kreuzzug zu einer
schrecklichen Persönlichkeit zusammenfügten. Nichts wäre weiter von der Wahrheit ent-
132 Die Freistudentenschaft galt deshalb manchen auch als „feminin“. „Männer der Kraft , Männer der
rücksichtslosen , aber gesunden , menschheitsfördernden Tat , nationale Männer werden mit psycho-
logischer Notwendigkeit in ihrer Bewegung keinen Raum finden.“ ( Erich Keup , zit. n. Werner 2003 ,
258 ) Es dauerte im Übrigen bis 1911 , dass Frauen offiziell in den studentischen Vertretungsgremien
zugelassen waren. ( Werner 2003 , 264 )
133 „Unser Freistudentischer Kreis entstammte allen Bevölkerungsschichten , die es sich leisten konn-
ten , ein Kind auf eigene Kosten studieren zu lassen : Söhne des Adels , der Honoratioren , von grö-
ßeren Bauernhöfen , von Handwerkern , Fabrikanten , Zeiss-Arbeitern , Pfarrern , Lehrern.“ ( Flitner
1986 , 158 f. ) Die Zeiss-Arbeiterinnen und -Arbeiter konnten ihre Kinder studieren lassen , weil sie in
vielerlei Hinsicht besser gestellt waren als die meisten Arbeiterinnen und Arbeiter ihrer Zeit. Ernst
Abbe , einer der Firmengründer der Zeiss-Werke , verwirklichte nämlich seine hohen sozialmorali-
schen Ansprüche in einer Reihe von sozialen Reformprojekten und in eigenen Erziehungsinstitu-
tionen für die Arbeiterschaft , aus der die Jenaer Volkshochschule hervorgehen sollte. Carnap selbst
war sowohl Mitglied der Volkshochschulen in Jena als auch in Freiburg , in deren Aufbau einige sei-
ner Freunde engagiert waren. In Jena war Flitner besonders aktiv , in Freiburg Bernhard Merten , mit
dem Carnap die Erlanger Konferenz organisierte. ( Gabriel 2004 , 9 , Fn. 11 )
134 Das ist auch der Hintergrund der Lebensweisheit bei Schlick ( Schlick 1908 ).
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441