Page - 103 - in Ethik und Moral im Wiener Kreis - Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Image of the Page - 103 -
Text of the Page - 103 -
5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode
103
Zum Einfluss Freges ,141 der hinlänglich aufgearbeitet ist , sei hier nur so viel ange-
merkt , dass Carnap während seines Studiums nicht nur mehrere Lehrveranstaltungen
Freges besuchte , sondern diese Lehrveranstaltungen über mehrere Semester hinweg erst
ermöglichte , indem er einen weiteren Zuhörer fand. Denn nur durch mindestens zwei
Zuhörerinnen oder Zuhörer war die Abhaltung der Lehrveranstaltung gesichert. ( Flit-
ner 1986 , 126 )142 Bei aller Wichtigkeit Freges für Carnaps Arbeiten auf anderen Gebie-
ten ist er für die Thematik dieser Untersuchung nicht weiter direkt von Belang.143 Sehr
wohl sind dies hingegen die Zusammenhänge der Carnapschen Ethik mit Lebensphilo-
sophie und Neukantianismus.
5.2.3.1 Lebensphilosophie
Zu den Mentoren des Serakreises gehörte neben Diederichs der Dilthey-Schüler und
-Assistent Herman Nohl , an den sich Carnap in seiner Intellektuellen Autobiographie ger-
ne erinnert :
Mit besonderem Vergnügen und Dankbarkeit erinnere ich mich an die Seminare von Her-
mann [ sic ! ] Nohl ( damals junger Dozent in Jena ) über Philosophie , Pädagogik und Psycho-
logie , selbst wenn der Stoff , beispielsweise Hegels Rechtsphilosophie , oft weitab von meinen
eigentlichen Interessen lag. Meine Freunde und ich waren von Nohl darum besonders an-
gezogen , weil er sich für das Leben und die Gedanken seiner Studenten , im Unterschied zu
den meisten Professoren im damaligen Deutschland , persönlich interessierte und uns in sei-
nen Seminaren wie in privaten Gesprächen ein tieferes Verständnis für die großen Philoso-
141 Frege war 1879 an der Salana zum außerordentlichen Professor ernannt worden , wo er sich schon
vorher bei Abbe mit einer Arbeit zum Thema Rechnungsmethoden , die sich auf eine Erweiterung des
Größenbegriffes gründen habilitiert und zunächst als Privatdozent gelehrt hatte. 1896 wurde er zum
ordentlichen Honorarprofessor berufen. Siehe als Überblick Gabriels Beitrag „Carnap and Frege“
( Gabriel 2007 ) in The Cambridge Companion to Carnap.
142 Über einen persönlichen Kontakt Carnaps zu Frege zwischen 1919 und Freges Tod 1925 ist darüber
hinaus nichts bekannt. ( Patzig 1966 , 101 )
143 Ebenso gering ist die Bedeutung der Husserl’schen Phänomenologie in diesem Zusammenhang , wo-
bei hier nicht verschwiegen werden soll , dass Husserl für Carnaps frühe Werke Der Raum und Der
logische Aufbau der Welt eine wichtigere Rolle spielte , als bis vor kurzem in der Forschung anerkannt
wurde ; und von Carnap nie eingestanden wurde. Laut Flitner zog Carnap nach der Dissertation 1921
nach Buchenbach in der Nähe Freiburgs , wo er im Hause seines Schwiegervaters am Aufbau arbei-
tete. ( Laut Schlotter 2008 , 57 , Fn. 45 , fand der Umzug bereits im August 1919 statt. ) Carnap , der
fast ohne Unterbrechung am Aufbau schrieb , sei dort mit Husserl über diesen im Gespräch gewe-
sen. ( Flitner 1986 , 274 ) Nachweislich besuchte Carnap in den Sommersemestern 1924 und 1925 Hus-
serl-Seminare. ( Ryckman 2007 , 91 f. ) Wie auch andere „kontinentale“ Bezüge wurde dieser Einfluss
erst kürzlich ausführlich untersucht , v. a. in Rosado Haddocks The Young Carnap’s Unknown Master
( 2008 ). Ob hier ein subtiler maßgeblicher Zusammenhang besteht , kann im Rahmen dieser Unter-
suchung leider nicht aufgezeigt werden. Siehe auch Thomas Ryckmans Beitrag „Carnap and Hus-
serl“ ( Ryckman 2007 ) in The Cambridge Companion to Carnap.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441