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5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus
108 Wie weit Carnaps Begriff von Politik zu dieser Zeit war , geht aus folgendem Zitat
hervor :
Denn zur Politik gehört uns alles , was mit dem öffentlichen Gemeinschaftsleben der Men-
schen zusammenhängt , sowohl der Geist , den die Gemeinschaft verkörpert , wie auch ihre
Struktur , der Aufbau ihrer Gliedmassen [ sic ! ], der Völker , großer und kleiner Organe bis
herab zu den Menschenatomen. [ … ] Diese Form , mehr Organismus als Organisation , zu
schaffen und zu entwickeln , ist uns die Aufgabe der Politik. In diesem Sinne ist Politik als
Wissenschaft neben der Individualethik der andere Zweig der praktischen Philosophie , also
einer Wertlehre ; und Politik als Tun besteht in der Verwirklichung dieser Werte. ( Carnap 1918
[ 2010 , 19 ])154
Das gesamte öffentliche Gemeinschaftsleben gehört für Carnap zur Politik. Politik als
Wissenschaft sei ein Zweig der Praktischen Philosophie , wobei er die Berechtigung ei-
ner politischen Philosophie anerkennt , die sich als wissenschaftliche Wertlehre mit dem
öffentlichen Gemeinschaftsleben befasst.155 Zwar scheint der Ausdruck „Ethik“ an die-
ser Stelle nur in „Individualethik“ auf , er wird von Carnap , wie gleich deutlich werden
wird , jedoch auch in Bezug auf die politische Philosophie verwendet. Wissenschaft-
lich herausgearbeitete Forderungen für diesen Bereich wird er ebenso „ethische Forde-
rungen“ nennen. In meiner Verwendung von „Moral“ fallen jedenfalls auch Gemein-
schaftsbelange in das moralische Gebiet , weshalb Carnaps Ansichten in diesem Artikel
fĂĽr mich als moralisch-politische bzw. , soweit sie die Philosophie betreffen , als ethi-
sche aufzufassen sind.
Noch klarer wird Carnaps Verständnis von moralisch-politischer Philosophie , wenn
er die Frage behandelt , wer an der Niederlage Deutschlands mit Schuld trage. Dies täten
nicht zuletzt die „Geistigen“ – jene „aus dem Volke , die uns nach Lebensart , Gesinnung
und Anschauung nahe stehen“ ( Carnap 1918 [ 2010 , 17 ]). Ihre Gleichgültigkeit dem poli-
tischen Leben gegenüber hätte zwei Gründe : Zum einen hätte die kontemplative Seite
des geistigen Lebens auf die Deutschen zu starken Einfluss ausgeübt und die Aktivität als
zweite Kraft zurückgedrängt ( mit Verweis auf Scheler ):
154 Diese Auffassung ist weniger an die Aufklärung angelehnt als an einen „späten Weimarer Romanti-
zismus“, wie Mormann diese Weltanschauung betitelt. Nirgends werden die Ausdrücke „Demokra-
tie“ oder „Gesellschaft“ verwendet. Anstatt dessen ist viel von „Gemeinschaft“ und „Volk“ die Rede :
„Volkscharakter“, „Volksaufbau“, „Volksregierung“, „Volksverbund“ usw. Carnap hatte ein komplizier-
tes Verhältnis zur Aufklärung , das zu klären , so Mormann , noch zu unternehmen sei. ( Mormann
2010c , 5 f. )
155 Entsprechend wird Carnap später noch sagen , in politischen Fragen seien oft moralische Fragen mit
einbegriffen. ( Carnap 1964 [ 1993 , 147 ])
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale MoralbegrĂĽndung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 MoralbegrĂĽndung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 MoralbegrĂĽndung auf Grundlage natĂĽrlicher Ziele : Rationale MoralbegrĂĽndung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische MoralbegrĂĽndung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und BĂĽrgerinnen oder BĂĽrger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukĂĽnftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- AbkĂĽrzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441