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5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode
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5.3.1.2 Die Konstitution von Werten im Aufbau
Mormann hält den Titel des Aufbaus für nicht sehr treffend. Bessere Titel hätten gelautet :
Der Aufbau des Weltbegriffs oder der Welterkenntnis. Anliegen Carnaps war nämlich die ra-
tionale Rekonstruktion eines Begriffsbildungsvorganges. Es sollte darin ein System dar-
gelegt werden , das aufweist , wie alle wissenschaftlichen Begriffe auf einer gemeinsamen
Basis konstituiert werden können.163 Dass es darin auch um die Konstitution von Werten
geht , findet sich in den Untersuchungen des Werkes selten erwähnt , noch seltener ausge-
führt. Mormann ist es zu verdanken , dass er darauf wieder aufmerksam machte und die-
ses Manko weitgehend behoben hat.
Lange Zeit war eine vor allem von Quine und Goodman unternommene empiristische
Interpretation des Aufbaus vorherrschend , die sich auf die Konstitution mathematischer
und physikalischer Gegenstände beschränkte.
Die Vernachlässigung der geistigen Gegenstände [ zu denen Mormann irrtümlich auch die
moralischen Werte zählt ; A. S. ] ist weniger der ursprünglichen Intention des Aufbau selbst
anzulasten als vielmehr der einseitig naturwissenschaftlichen Orientierung der analytischen
Wissenschaftsphilosophie , die mit den geistes- oder kulturwissenschaftlichen Aspekten des
Werkes nichts anzufangen wußte. ( Mormann 2006 , 170 )
Das Aufbau-Programm war nicht nur auf die empirischen Wissenschaften , sondern auf
die „Welt“ im Sinne einer neukantianischen Einheit von Wert und Wirklichkeit gerichtet.
( Mormann 2006 , 183 ) Mittlerweile wurden auch neukantianische und phänomenologische
Interpretationen des Werkes vorgelegt.164 Einflüsse , die aus dem logisch-empiristischen
Blickwinkel nicht in Erscheinung traten oder zumindest nicht erwähnenswert schienen ,
treten nicht zuletzt dann hervor , wenn man sich der Wertthematik zuwendet. Mormann
ist zuzustimmen , dass sich in den Skizzen zu den höheren Schichten des Konstitutions-
systems das philosophische Rohmaterial , aus dem der Aufbau gestaltet wurde , deutlicher
zeigt als in den formal durchgearbeiteten Konstitutionen der unteren Schichten ( Mor-
mann 2006 , 170 f. ). Dieses Rohmaterial reicht von Einflüssen des südwestdeutschen Neu-
kantianismus und Fragestellungen der Lebensphilosophie bis hin zu Anleihen bei pseu-
dophilosophischen biologistischen Strömungen wie Ostwalds Energetismus. Wobei , wie
sich auch für die Problematik moralischer Werte zeigen wird , von einer friedlichen Ko-
163 Dass Carnap im Aufbau unterschiedslos von Begriffen und von Objekten spricht , hat auch zu onto-
logischen Interpretationen des Werkes Anlass gegeben. Vgl. z. B. Cirera ( 1994 , 32 ff. ).
164 Da Carnap im Aufbau alles , was er bis zu Beginn der 1920er-Jahre philosophisch zur Kenntnis ge-
nommen hatte , in einem Werk zu einer neuen wissenschaftlichen Philosophie synthetisieren woll-
te , werde das Problem , ob der Aufbau neukantianisch , empiristisch , logizistisch , phänomenologisch
oder wie auch immer zu lesen sei , bis zu einem gewissen Grade trivialisiert. Für alle diese Lesarten
gebe es Belege , aber keine von ihnen könne ein Interpretationsmonopol beanspruchen. ( Mormann
2006 , 174 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441