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5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode
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Die Art der Religion eines Volkes wird festgestellt nach den Vorstellungen , GefĂĽhlen , Ge-
danken , Willensregungen religiöser Art , die bei den Individuen dieses Volkes vorkommen ;
ferner werden auch Dokumente in Gestalt von Schriften , Bildwerken , Bauwerken zur Hil-
fe genommen. ( Carnap 1928a , § 55 )
Wie Mormann gezeigt hat , bewährt sich für Carnap die allgemeine Konstitutionsme-
thode der Quasianalyse , die er fĂĽr den Aufbau seines Systems verwendet ,165 nicht nur im
Aufbau naturwissenschaftlicher Begriffe , sondern auch in der Konstitution höherer Ge-
genstände , zu denen auch die Werte zählten. Erst durch die Konstitution von Werten voll-
ende sich , so Mormann weiter , der Aufbau der Welt im eigentlichen Sinne. Wo sind nun
die Werte ( insbesondere die moralischen oder wie Carnap sagt „ethischen“ ) einzuord-
nen ? Werte gehören nach Mormann im Aufbau zur Schicht der geistigen Gegenstände.
Die Besonderheit von Werten als geistigen Gegenständen bestand für Carnap genauer ge-
sagt darin , dass sie sich in „Werterlebnissen“ manifestierten , in denen man ein Erlebnis oder
eine Hand lung bewertete , [ … ]. Analog der Konstitution physischer Gegenstände aus psy -
chischen ( Wahr neh m
ungs ) er leb nis sen wurden also Werte aus sogenannten Werter leb nis sen
kon stituiert. ( Mormann 2010b , 90 )
Fest steht , dass Carnap im Aufbau eine Konstituierbarkeit von Werten aus Werterlebnis-
sen annahm und sie fĂĽr ihn somit in die Welt der Erkenntnis fallen. Carnap vertritt da-
mit einen erkenntnistheoretischen Kognitivismus. Die Interpretation , dass Werte zu den
geistigen Gegenständen gehören , ist jedoch nicht so eindeutig. Zwar wird die Konstitu-
ierung von Werten in einem Abschnitt behandelt , der mit „Die oberen Stufen : fremdpsy-
chische und geistige Gegenstände“ überschrieben ist , doch steht im für diese Frage zent-
ralen § 152 , der diesem Abschnitt zugehört , ganz klar :
Bisher sind die Konstitutionen der wichtigsten , vorwissenschaftlich und wissenschaftlich am
genauesten bekannten Gegenstandsarten , nämlich des Physischen , des Psychischen und des
Geistigen dargestellt oder angedeutet worden. Zum SchluĂź sei nun noch die Konstitution
der Werte wenigstens in ihrer allgemeinen methodischen Form kurz angedeutet. Hierbei kann
noch weniger als bei den anderen Gegenstandsarten von fertigen Formulierungen die Rede
sein , da das Gebiet der Werte in bezug auf den Charakter seiner Gegenstände und die Art der
Erkennung in besonders hohem Grade umstritten und problematisch ist. ( Carnap 1928a , § 152 )
165 Werttheoretische Begriffsbildungen prägen bereits die Konstitutionsmethode der Quasianalyse
selbst , worauf ich hier nicht näher eingehen werde , da es sich hierbei nicht um moralische Werte
handelt. In § 42 skizziert Carnap eine Interpretation der Quasianalyse , die direkt auf die Sein-Gel-
ten Unterscheidung rekurriert , die fĂĽr den sĂĽdwestdeutschen Neukantianismus charakteristisch war.
( Mormann 2006 , 170 f. )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale MoralbegrĂĽndung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 MoralbegrĂĽndung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 MoralbegrĂĽndung auf Grundlage natĂĽrlicher Ziele : Rationale MoralbegrĂĽndung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische MoralbegrĂĽndung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und BĂĽrgerinnen oder BĂĽrger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukĂĽnftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- AbkĂĽrzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441