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5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus
116 Ich verstehe dies dahingehend , dass Carnap Werte als eine eigene Gegen standsart ansieht ,
wie er selbst in der Zusammenfassung ausdrücklich sagt :
Mit den Gebieten des Eigenpsychischen , Physischen , Fremdpsychischen und Geistigen sind
die wichtigsten Gegenstandsarten konstituiert. Als Beispiel einer weiteren Gegenstandsart
werden die Werte angeführt. ( Carnap 1928a [ 1998 , 270 ])
Auch zu seiner Skizze der Stufen in § 58 , die oben anführt wurde , fügt er hinzu , dass es
sich hierbei nur um die wichtigsten Gegenstandsarten handle. Was unterscheidet die Ge-
genstandsart der Werte nun von den anderen , insbesondere den geistigen Gegenständen ?
Carnap äußert sich diesbezüglich folgendermaßen :
Die Konstitution von Werten baut nicht auf den schon behandelten Stufen des geistigen oder
des fremdpsychischen weiter , sondern knüpft an einer früheren Stelle des Konstitutionssys-
tems wieder an ( Carnap 1928a , § 152 ),
nämlich bei eigenpsychischen Werterlebnissen , wie ja auch Mormann herausstellt.166
Carnap sieht hier eine Analogie zur Konstitution der physischen Dinge aus Wahrneh-
mungserlebnissen und begnügt sich zur Erläuterung mit einigen Beispielen , u. a. einem
moralischen :
So kommen etwa ( unter manchen anderen ) für die Konstitution der ethischen Werte Ge-
wissenserlebnisse , Erlebnisse der Pflicht oder der Verantwortung und dergl. in Betracht ; für
die ästhetischen Werte Erlebnisse des ( ästhetischen ) Gefallens oder anderer Haltungen bei
Kunstbetrachtung und Erlebnisse der Kunstschöpfung usw. Im einzelnen wird die Beschaf-
fenheit der Werterlebnisse der verschiedenen Wertarten von der Wertphänomenologie un-
tersucht ; hier kann darauf nicht näher eingegangen werden. Die charakteristischen Eigen-
schaften der verschiedenen Werterlebnisse lassen sich dann , wenn die phänomenologische
Analyse durchgeführt ist , mit Hilfe der früher ( § 131 f. ) konstituierten Qualitäten des Eigen-
psychischen und der Komponenten von solchen , insbesondere der der Gefühle und der Wol-
lungen , konstitutional ausdrücken. Dadurch ist es dann möglich , die Konstitutionen der ver-
schiedenen Wertarten auf Grund jener Konstitutionen aufzustellen. ( Carnap 1928a , § 152 )
Soweit und so knapp Carnap zur Konstitution von Werten. Wie sich Carnap das genau
vorstellt , bleibt demnach offen. Wo in einem etwaigen Stufenbau der Werte die morali-
schen Werte anzusiedeln wären , erfahren wir nicht. Carnap lässt uns darüber im Unkla-
166 Carnap unterscheidet fernerhin verschiedene Wertarten : „Es sind verschiedene Arten von Werten zu unter-
scheiden , z. B. die ethischen , die ästhetischen , die religiösen , die biologischen ( im weitesten Sinne , einschließ-
lich der technischen , wirtschaftlichen , individual- und rassehygienischen ) u. a.“ ( Carnap 1928a , § 152 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441