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5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode
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ren , ob moralische Werte analog zu den geistigen Gegenständen , die auf Basis von Wahr-
nehmungserlebnissen konstituiert werden , davon kategorial unterschieden , aber dennoch
höherer Ordnung sind , wenn nun auch auf Basis von Werterlebnissen. Eindeutig ist nur ,
dass Werte im Aufbau der Welt der Erkenntnis zuzurechnen sind.
Bevor ich nun auf das Verhältnis dieser Ausführungen zu Werten im Aufbau zu Rickerts
Werttheorie eingehe , sei noch ein kleiner Hinweis Carnaps erwähnt , mit dem er sich vom
Psychologismus distanziert. Klargestellt wird von ihm nämlich in § 152 noch , dass die Wer-
te nichts Psychologisches seien :
[ Der ] Wert ist nicht selbst erlebnishaft oder psychisch , sondern besteht unabhängig vom
Erlebtwerden und wird in dem Erlebnis ( genauer : in dem Wertgefühl , dessen intentionales
Objekt er bildet ) nur erkannt ; ebenso , wie das physische Ding nicht psychisch ist , sondern
unabhängig von der Wahrnehmung besteht und in der Wahrnehmung , deren intentionales
Objekt es ist , nur erkannt wird. ( Carnap 1928a , § 152 )
Wie verhält sich diese Position Carnaps hinsichtlich moralischer Werte nun zur Theorie
moralischer Werte bei Rickert ?
5.3.1.3 Der Aufbau und die Theorie moralischer Werte bei Rickert
Hier lassen sich aufgrund der lediglich rudimentären Bemerkungen Carnaps und der nicht
eben leicht verständlichen Position Rickerts nur wenige allgemeine Bezüge herausstellen.
Der erste mögliche Bezugspunkt liegt in der Frage , ob sich Carnaps Aufbau und Rickert
in der Ablehnung eines Wertrealismus treffen. Dies „erkennen“ aus dem vorangehenden
Zitat darf nicht falsch verstanden werden. Carnap geht es , wie er sogleich einräumt , um
eine rein logische Beziehung zwischen Wert und Wertgefühl , nicht um eine „metaphysi-
sche“ Behauptung , der gemäß Werte nun als reale Gegenstände aufzufassen seien und sie
sozusagen im Werterlebnis als reales Gegenüber erkannt würden. Und mit den Werten
schließt er den Entwurf des Konstitutionssystems mit § 152 ab. Carnap vertritt im Aufbau
keinen ontologischen Wertrealismus , sondern enthält sich.
Rickert hingegen lehnt zwar einen Wertrealismus im engeren Sinne , für den Werte zum
Sein gehören , ab , nicht jedoch einen Wertrealismus im weiteren Sinne. Wenn Rickert von
einem transzendenten Sollen spricht , das in einem Urteil anerkannt wird , so sei mit die-
sem Sollen kein transzendentes Sein gemeint. ( Rickert 1904 , 125 ; Holzhey 2004 , 99 ) Wer-
te existieren für Rickert nicht real , sie sind nicht , aber gelten :
Es ist also ein Wertobjekt gemeint , das nicht real existiert , wohl aber gilt , auch wenn kein re-
ales Subjekt es faktisch wertet oder anerkennt. ( Rickert 1921 , 133 f. )
Es handelt sich hier um einen Realismus im weiteren Sinne , wie ich den Ausdruck „Re-
alismus“ in meiner Terminologie verstehe.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441