Page - 118 - in Ethik und Moral im Wiener Kreis - Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Image of the Page - 118 -
Text of the Page - 118 -
5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus
118 Entscheidend wird hierbei die Frage der Objektivität von Werten. Gelten moralische
Werte für Carnap im Aufbau objektiv wie für Rickert ? Zentral für Rickerts Wertlehre ist ,
dass moralische Werte objektiv gelten , obwohl sie nicht real existieren. Im System der Phi-
losophie von 1921 unterscheidet Rickert drei Stufen des irrealen Geltens ( in Unterschei-
dung zum realen Sein ):
( 1 ) Individuell subjektive Werte. Sie gelten nur für jenes Individuum , das sie wertet. Sie
gelten nur in einer sehr weiten Bedeutung des Wortes. Rickert spricht deshalb auch von
Scheinwerten und Scheingeltung. Es geht hier um persönliche Liebhabereien und blo-
ße Launen.
( 2 ) Allgemein subjektive Werte. Sie werden von allen Subjekten gewertet und sind in-
sofern für alle Subjekte als Werte gültig. Sie gelten aber nicht unabhängig von den wer-
tenden Subjekten. Hierunter fällt nach Rickert die Lust.
( 3 ) Objektive Werte. Objektive Werte gelten , ohne dass sie von jemandem gewertet
werden. Das , was objektiv gilt , soll von allen anerkannt werden , muss aber nicht von allen
anerkannt werden , um zu gelten. Dazu zählen nach Rickert nicht nur theoretische Wer-
te wie Wahrheit , sondern auch die ästhetischen , moralischen ( „ethischen“ ) und religiö-
sen. ( Rickert 1921 , 132 ff. )
Wie positioniert sich hier der Aufbau ? Auch hier bleibt der Aufbau in meiner Inter-
pretation neutral und enthält sich einer Stellungnahme ( zumindest wird es nicht ge-
klärt ). Zwar kommen Werte im Aufbau nur als Gegenstand von eigenpsychischen Wer-
terlebnissen vor. Ob in diesen Werterlebnissen objektiv Geltendes erfasst wird , bleibt
aber offen. Mit seiner Konstituierung von Werten im Aufbau ist also keine Rickert’sche
Position bezüglich objektiv geltender Werte verbunden , eine solche jedoch auch nicht
ausgeschlossen.167
Aufgrund dieses Befundes kann nur mit starken Vorbehalten davon gesprochen wer-
den , im Aufbau sei eine neukantianische metaethische Position im Sinne Rickerts zu fin-
den. Im besten Falle wird im Aufbau eine solche zugelassen. Dies ungeachtet dessen , dass
der Aufbau viele Anklänge an Rickerts System der Philosophie aufweist und die Konstitu-
tionsskizze der Werte belegt , „dass das Programm des Aufbaus weit über die empirischen
Wissenschaften hinausreichte“ ( Mormann 2010b , 91 ).
Carus betont sogar , der Aufbau richte sich gegen Rickert :
Carnap may indeed have been influenced by Rickert in the vast scope he gave the Aufbau sys-
tem , its inclusion of cultural objects and of values , and its reconstruction of the relation bet-
167 Eine andere Interpretation hält objektive Werte im Aufbau sehr wohl für ausgeschlossen : Die Ex-
tensionalität schließe die Konstitution von objektiven Werten , die als intentionaler Gegenstand des
Werterlebnisses auftreten könnten , aus. Als Gegenstand könne nur konstituiert werden , was sich im
Fremdpsychischen wiederhole. Carnap könne deshalb höchstens allgemein subjektive Werte konsti-
tuieren. Dem ist entgegenzuhalten , dass Werte hier nur in dem Sinne subjektiv bleiben müssten , wie
dies auch auf psychische Gegenstände auf Basis von Wahrnehmungserlebnissen zutrifft.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441