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5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode
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ween Sein and Gelten
– but the point was precisely to demonstrate that all these matters could
be accommodated within a unified system without imposing Rickert’s fundamental disconti-
nuity between natural and human sciences. ( Carus 2007a , 107 )
Im Aufbau würden alle Dinge dem kritischen Denken zugänglich. ( Vgl. Carus 2007a , 183 )
Hier scheint Carus jedoch Rickert missverstanden zu haben. Auch bei Rickert sind Wer-
te Bestandteil des einen Systems.168
Wie steht es um den Individualismus im Aufbau ? Erinnern wir uns. In § 152 heißt es :
Die charakteristischen Eigenschaften der verschiedenen Werterlebnisse lassen sich dann ,
wenn die phänomenologische Analyse durchgeführt ist , mit Hilfe der früher ( § 131 f. ) kon-
stituierten Qualitäten des Eigenpsychischen und der Komponenten von solchen , insbeson-
dere der der Gefühle und der Wollungen , konstitutional ausdrücken. ( Carnap 1928a , § 152 )
Können wir das als Beleg dafür heranziehen , Carnap fasse moralische Werte nicht als so-
ziales Phänomen auf , Moral sei kein gemeinschaftliches , soziales , kollektives Unterfangen ,
sondern ein individuelles ? Diese Frage wird im Aufbau nicht entschieden , weil Carnap
uns nicht verrät , wie man moralische Werte auf Basis von Werterlebnissen definiert und
in welchem Konstitutionsverhältnis sie zu individuellen Gefühlen und Wollungen stehen.
Carnap scheint einige Schwierigkeiten gehabt zu haben , im Aufbau Werte in sein Sys-
tem einzufügen. Er wollte sie noch berücksichtigen , aber so wichtig schien ihm ihre Be-
handlung nicht mehr zu sein , um so manche Unklarheit , die nun im Aufbau vorhanden ist ,
auszuräumen. Daran ändert auch der Umstand nichts , dass Carnap in § 59 kurz eine phy-
sikalistische Konstitution von Werten skizzierte , mit der er sich auf Ostwalds Die Phi lo so -
phie der Werte ( 1913 ) bezog , in der dieser eine physika li sti sche , genauer gesagt „energeti-
sche“ Konstitution von Werten ins Auge gefasst hatte. Carnap hat dies nie wieder erwähnt.
Zudem ließe sich die Skizze der Wertkonstituierung auch so verstehen , dass auf Ba-
sis von Wahrnehmungserlebnissen der Bereich der Tatsachen konstituiert werde und der
Bereich der Werte auf Basis von Werterlebnissen schon im Aufbau davon kategorial ge-
trennt sei. Wenngleich
– und dies ist sicherlich nicht unwichtig
– noch beide Bereiche zur
Welt der Erkenntnis gehören.
5.3.1.4 Schlussbemerkungen zum Aufbau
Der Aufbau ist ein Werk des Übergangs. Carnap begann den Aufbau bald nach seiner
Dissertation zu verfassen , und die Schrift erschien zu einer Zeit , „als Carnap gedanklich
168 Carus hebt vielmehr eine pragmatistische Strömung im Aufbau hervor. Diese gehe auf Vaihinger zu-
rück , der als Verbündeter der amerikanischen Pragmatistinnen und Pragmatisten gesehen wurde und
der der Ansicht war , das intellektuelle Leben habe dem praktischen zu dienen. ( Carus 2007a , 123 ff. )
Der Einfluss auf den Aufbau betrifft jedoch das Thema der Fiktionen und nicht der Werte.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441