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5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus
124 vermutlich nicht erst 1929 einsetzten , als Carnap zur Vortragsreihe nach Dessau eingela-
den wurde. Auch wenn Carnap nicht mehr ständig in Jena gelebt haben sollte , als Wal-
ter Gropius 1919 in Weimar durch das Zusammenlegen der Kunstgewerbeschule mit der
Hochschule für Bildende Kunst das Staatliche Bauhaus gründete , so konnte auch für ihn
zutreffen , was sein Freund Flitner in seiner Autobiographie , die oben schon mehrmals als
Quelle herangezogen wurde , schildert. Flitner führt aus , welches Faszinosum diese Ein-
richtung auf ihn und seinen Freundeskreis , zu dem nicht zuletzt Carnap zählte , ausübte.
Explizit nimmt er hierbei auf die moralische Dimension des Schaffens Bezug :
Wir erlebten einen historischen Ruck im Bereich der ästhetischen Formensprache , dessen
ethischer , wenn nicht gar weltanschaulicher Hintergrund fühlbar war [ … ]. [ … ]
Der avantgardistische Purismus , dem sich Roh zuneigte , war ihm nicht eigen. ( Flitner 1986 ,
285 f. )
Ich erwähne diese Stelle deshalb , weil in der Literatur zur Verbindung von Bauhaus und
Wiener Kreis bisweilen der Eindruck entsteht , es sei das Formalistische , Puristische , Mo-
dernistische der einzige gemeinsame Bezugspunkt. Das mag später , wie auch „Wissen-
schaft und Leben“ zeigt , in den Vordergrund getreten sein , doch zunächst könnten Carnap
wohl wie Flitner andere Züge des Bauhauses in Bann gezogen haben : die Aufhebung der
Trennung von Kunst und Handwerk , der reformpädagogische Ansatz , dass jede eine po-
tenzielle Künstlerin oder ein potenzieller Künstler sei und eine allgemein-menschliche
Basis ausreiche , um Zugang zur Kunst zu finden , die „Brüderlichkeit alles gut Gemach-
ten“, die Suche nach einem natürlichen System der Raumgestalt , die humane und sozia-
le Verantwortung der Architektinnen und Architekten , wie sie Flitner aufführt. ( Flitner
1986 , 287 ) Ein möglicher positiver Aspekt könnte auch für Carnap der Umstand gewe-
sen sein , dass viele der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus der Jugendbewegung ka-
men , oder auch der Respekt vor kultureller Vielfalt , die sich etwa in Töpferware zeigte ,
die an afrikanische Keramik erinnerte. ( Flitner 1986 , 290 ) Vorbild war darin nicht forma-
listische Architektur , sondern beispielsweise Andrea di Pietro della Gondola , besser be-
kannt als Palladio , der bedeutendste Architekt der Renaissance , den Flitner ausdrücklich
nennt. ( Flitner 1986 , 288 ) Nicht , dass es im Bauhaus keine rationalistischen Bestrebungen
gegeben hätte , doch stellt Flitner eindeutig klar :
Die emotionale Bewunderung , die zeitweise dem rationalsten Technizismus von einigen The-
oretikern des Kreises [ des Bauhaus-Kreises ; A. S. ] gezollt wurde , hatte eine Nachahmung
dieses Stils zur Folge , der eine rechenhafte und sozial erkältende Architektur in der gan-
zen Welt hervorgebracht hat , die den anfänglichen ethischen Impuls der Bewegung in sei-
ne Gegenrichtung verkehrte. Die Problematik der modernen europäischen Kultur brachte
schon in der frühen Bauhauszeit Konflikte unter den Künstlern und ihren Anhängern her-
vor : eine meditative und religiöse Strömung lag im Streit mit den konstruktivistischen rati-
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441