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5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus
132 Lebensgefühl am wenigsten vermengt habe. Seine historischen Analysen bestimmter
Kunstphänomene und die Genealogie der Moral hätten empirischen Inhalt :
In dem Werke aber , in dem er am stärksten das zum Ausdruck bringt , was andere durch
Metaphysik oder Ethik ausdrücken , nämlich im „Zarathustra“, wählt er nicht die irrefüh-
rende theoretische Form , sondern offen die Form der Kunst , der Dichtung. ( Carnap 1931/32
[ 2004 , 107 f. ])181
Carnap ist zur Lebensphilosophie zurückgekehrt bzw. diese schlägt nun am meisten durch.
Dies geschah möglicherweise aus politischer Enttäuschung heraus ( siehe unten ).
Was die Ethik betrifft , ist die Entscheidung , in welchem Lager ihre Wert- und Norm-
sätze landen werden , aber bereits damit gefallen , alle ihre Wert- und Normsätze als Aus-
druck eines Lebensgefühls zu sehen. Die Logik hat nur den nachfolgenden Schnitt voll-
zogen. „Die“ Logik konnte später , wie wir unten sehen werden , nicht einmal mehr diesen
machen , denn aus „der“ Logik wurden „die Logiken“.182
Es sind Formulierungen wie die in der „Überwindung“, mit denen sich der Wiener
Kreis Aufmerksamkeit sicherte , auch wenn es für Carnap , was sein philosophisches Werk
betraf , nur eine vorübergehende kämpferische Phase sein sollte :
Wittgenstein’s prophetic personality and the crusading spirit among the members of the Vi-
enna Circle had the effect of eliciting from the normally critical Carnap expressions which
he himself soon saw would not stand up to close analysis. On the other hand , their extre-
me simplicity and dogmatic character were largely responsible for the attention the Vien-
na Circle drew upon itself from the outside world. Among scientists and philosophers with
practical experience in science there was wide mistrust , even scorn and contempt , for Ger-
man metaphysics , and Carnap’s words found a ready and general response. ( Naess 1968 , 34 f. )
Das verifikationistische Sinnkriterium , wie es in der „Überwindung“ formuliert war , er-
wies sich bald als unhaltbar. In den folgenden Jahrzehnten wurde mehrmals und vergeb-
lich versucht , ein funktionierendes Sinnkriterium zu formulieren. Das Problem konnte nie
gelöst werden. Besonders hartnäckig blieb das Problem der Sinnhaftigkeit theoretischer
Ausdrücke. ( Mormann 2000 , 73 )
Außer aus philosophischen Gründen lehnt Carnap die Metaphysik auch aus politi-
schen Gründen ab , weil sie ihm Ausdruck einer reaktionären politischen und gesellschaft-
181 Ob Carnap damit Nietzsche und seinem Zarathustra gerecht wird , sei dahingestellt.
182 1957 wird Carnap überdies eine Bemerkung anfügen , dass nun mehrere Arten von Sinn unterschie-
den würden. Insbesondere der erkenntnismäßige ( bezeichnende , bezugnehmende ) Sinn auf der einen
Seite und der nicht-erkenntnismäßige ( expressive ) Sinn auf der anderen Seite. Zu Letzteren zählen
der emotive und motivationale Sinn. In diesem Aufsatz von 1931/32 sei nur vom erkenntnismäßigen
Sinn die Rede gewesen. ( Bemerkungen von 1957 zu Carnap 1931/32 [ 2004 , 108 f. ])
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441