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5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode
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chen Grundwert jemand für sein Leben wählt ( das Wohlergehen einer Gemeinschaft ,
die Rettung der eigenen Seele oder das Wohlergehen der eigenen Person etc. ), nicht Sa-
che theoretischer Überlegungen sei. Es ist nach diesem Moralverständnis Sache der Er-
ziehung oder einer Entscheidung. Doch ob es sich bei den gewählten Grundwerten um
Grundwerte sozialer Moral handelt , ist demnach keine Sache persönlicher Einstellung
oder Entscheidung , sondern dem Individuum vorgegeben. Die soziale Moral zu bestim-
men , liegt nicht in der Entscheidungskompetenz ( moralischen Autorität ) eines Individu-
ums. Ob nun jemand aus freier Entscheidung moralisch sein will ( das Wohlergehen ei-
ner Gemeinschaft fördern ), bleibt persönliche Entscheidung und ist insofern beliebig. Ob
er sich damit für die soziale Moral entschieden hat , ist – gemessen am gültigen Maßstab
sozialer Moral – objektiv entscheidbar. Und ob die Werte und Normen sozialer Moral als
Beurteilungsmaßstab für jemanden gelten , bleibt von der persönlichen Wahl gänzlich un-
berührt. Jede( r ) ist aus Sicht eines gemeinschaftlichen Dezisionismus grundsätzlich frei ,
sein / ihr Leben gemäß denjenigen Werten zu führen , die ihm / ihr zusagen , doch nicht im
Verfolgen aller Werte ist jemand moralisch gerechtfertigt. Um es in einer Bootsmetapher
zu sagen : Ob jemand das Wert-Schiff „Moral“ besteigt , ist eine persönliche Entscheidung
( mit allen Konsequenzen ). Ob es sich bei dem Wert-Schiff , auf das sich jemand begibt ,
um „Moral“ handelt , ist nichtsdestoweniger keine persönliche Entscheidung. Wer auf Ba-
sis seiner gewählten Grundwerte wertet , drückt mit einem Werturteil seinen persönlichen
Wertstandpunkt aus , seine persönliche Einstellung. Ein moralisches Urteil hat sie / er per
se damit nicht abgegeben.
Carnap lehnte nicht nur ab , bei moralischen Sätzen von Wahrheit / Falschheit zu spre-
chen , da sie in ihrer Gesamtheit nicht darstellend oder analytisch sind , sondern er lehnte
auch die Möglichkeit objektiver Überprüfbarkeit ab. Objektivität im Sinne einer intersub-
jektiven Rechtfertigung ist jedoch möglich , sobald es ein allgemein akzeptiertes Kriterium
gibt , mit dem sich ein moralischer Satz als richtig / falsch bzw. gĂĽltig / ungĂĽltig entschei-
den lässt , obwohl Objektivität immer nur relativ zu einer Wertegemeinschaft gegeben sein
kann. Moralische Sätze können mittelbaren empirischen Gehalt haben ( vermittelt über
den akzeptierten empirischen Gesichtspunkt der Wertung ). Die Objektivität von Moral
im Sinne intersubjektiver ĂśberprĂĽfbarkeit braucht keine moralischen Fakten , sondern nur
moralisch relevante Fakten , mit denen moralische Sätze kritisiert werden können. Eine
Behauptung rechtfertigen heißt , sich auf anerkannte Maßstäbe beziehen. Die Frage nach
moralisch richtig / falsch etc. kann erst in einem System – nach der Sprachwahl – gestellt
werden. Gemeinsam lässt sie sich nur beantworten , wenn die Kriterien allen zugänglich
sind. Dafür werden auch Schlick und Kraft plädieren. Für sie wird nicht das Individuum
die alleinige Definitionsmacht ĂĽber das moralisch Gute und Schlechte haben. Ein ratio-
naler Diskurs braucht geteilte Standards , keine von den Urteilenden unabhängigen Ob-
jekte. Carnaps Fehlurteil liegt nicht in der logischen Natur von reinen Werturteilen , son-
dern in der Häufigkeit deren Auftretens und deren Relevanz für moralische Werturteile.
Moral muss nicht grundsätzlich aus dem Bereich kognitiver Sätze ausgeschlossen sein.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale MoralbegrĂĽndung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 MoralbegrĂĽndung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 MoralbegrĂĽndung auf Grundlage natĂĽrlicher Ziele : Rationale MoralbegrĂĽndung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische MoralbegrĂĽndung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und BĂĽrgerinnen oder BĂĽrger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukĂĽnftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- AbkĂĽrzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441