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5.4 Spätphase : Optative
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folgende Beispiel zeige : „Lass uns lieber Straße a als b nehmen , weil a kürzer ist als b.“
Hierbei handelt es sich um kognitive Optative. Als „Optativ“ ( bzw. als optativen Satz ) be-
zeichnet Carnap jeden Satz , der unabhängig von anderen Bedeutungskomponenten jene
Bedeutungskomponente enthält , die allen Sätzen gemeinsam ist , die einen Wunsch , ei-
nen Vorschlag , eine Bitte , eine Forderung , einen Befehl , ein Verbot , eine Erlaubnis , einen
Willen , eine Entscheidung , eine Zustimmung , eine Ablehnung , eine Präferenz oder der-
gleichen ausdrücken. ( Carnap 1963c , 1001 ) Einen Optativ , der keine kognitive Komponen-
te enthält , nennt Carnap einen reinen Optativ. Dieser Festlegung folgt die Behauptung :
T4. There are pure optatives. ( Carnap 1963c , 1001 )
Wie genau diese These zu verstehen ist , wird nicht geklärt. Wo gibt es solche reinen Op-
tative ? Auf welches Gebiet erstreckt sich diese Behauptung ? Auf alle Wertsprachen ? Auf
Carnaps Sprache , mit der er Wertsätze bildet ? Wenn Letzteres , dann ist die These für fast
alle Fragestellungen , wie sie in der Metaethik gestellt werden , irrelevant. Dasselbe gilt für
die Verneinung dieser These , also dass es ( in Carnaps Wertsprache ) keine reinen Optati-
ve gibt. Diese Negation könnte als These des Kognitivismus definiert werden , so Carnap.
Das kann sie durchaus , doch nur verbunden mit den Nachteilen , dass der Kognitivismus
damit zum einen nur eine These über die Carnap’sche Wertsprache ist und zum anderen
der Kognitivismus ( da Negation von T4 ) nicht die Negation des Nonkognitivismus ( da
dieser durch T3 definiert ) ist.201
Bei allen Details , die Carnap zur Stützung von T4 ( bzw. zur Verteidigung der Nütz-
lichkeit seiner Sprache für das Verständnis von Wertungen ) vorbringt ,202 kann Carnap si-
cherlich nicht unterschoben werden , er behaupte , keinem Optativ und keinem Werturteil
käme kognitiver Gehalt zu. Wenn T4 stimmt , wäre damit nur eine sehr eingeschränkte
Version des Kognitivismus widerlegt. Pauer-Studer ( 1993 , 533 ) scheint dieser Widerlegung
des Kognitivismus deshalb zu viel Gewicht beizumessen. Carnap will in diesem späten
Beitrag gar nicht die These , Imperativen und Werturteilen komme kein kognitiver Gehalt
zu , begründen. Er behandelt gar keine These über vorliegende Imperative und Werturteile.
Carnap würde T4 auch nicht für den Fall aufgeben , dass die Mehrheit aller Benützer
und Benützerinnen der deutschen ( bzw. im Original der englischen ) Sprache keinen Satz
als reinen Optativ verwenden würde , und zwar mit der Begründung :
201 Kraft vertritt für das Gebiet der Moral die Gegenthese : Es gibt keine reinen moralischen Optative.
Moralische Urteile sind kognitive Optative.
202 Carnap stellt beispielsweise klar , dass eine Reihe von Tatsachensätzen , die vermeintlich aus Wertsät-
zen folgen , dies nicht tut. So folge aus dem Optativ „Lass uns Straße a statt Straße b nehmen“ weder
„A schlägt vor , a statt b zu nehmen“ oder „A glaubt , dass es für ihre Zwecke nützlich sei , a statt b zu
nehmen“ noch „A wünscht , dass B den Vorschlag , a statt b zu nehmen , akzeptierte“. ( Carnap 1963c ,
1001 f. )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441