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5.4 Spätphase : Optative
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mer sich das bemessen mag – Sprache über Haltungen als wesentlich an , dass sie reine
Optative enthalte , d. h. solche , „which express merely an attitude , without stating any co-
gnitive reason for it“ ( Carnap 1963c , 1008 ). Ob wir auch für die Moral eine solche Spra-
che brauchen , bleibt unbeantwortet , ganz zu schweigen davon , ob die Moralsprache der
gebräuchlichen natürlichen Sprachen diese Trennung vornimmt und die Sätze dahinge-
hend zu interpretieren seien.
Für Carnap ist es außerdem logisch möglich , dass zwei Personen alle Überzeugungen
teilen und sich trotzdem in ihrer Haltung unterscheiden :
T5 : It is logically possible that two persons A and B at a certain time agree in all beliefs , that
their reasoning is in perfect accord with deductive and inductive standards , and that they
never theless differ in an optative attitude component. ( Carnap 1963c , 1008 )
Hierin würden sich Kognitivistinnen und Kognitivisten von Nonkognitivistinnen und
Nonkognitivisten unterscheiden. Wiederum ist jedoch die Frage , ob dieser Nonkogniti-
vismus für alle Wertfragen auch im eingeschränkten Bereich der Moral zutrifft bzw. bei
welchem Moralverständnis.
Carnap bringt zunächst als Beispiele die Wahl einer Speise und die Wahl , ob nun
Schach gespielt oder Musik gehört werden soll. Alle diese Fälle mögen T5 stützen , sa-
gen aber nichts über das Gebiet der Moral. Schwieriger wird es schon im nächsten Bei-
spiel , das Carnap zur Unterstützung von T5 heranzieht. Es geht darin um die Verteilung
von Gütern in einer Gemeinschaft durch ein Gremium , das selbst nicht direkt von der
Verteilung betroffen ist. ( Diese Bedingung soll wohl Eigeninteresse ausschließen. ) Selbst
hier könnten sich bei gleichen Überzeugungen verschiedene Präferenzen ausbilden. Der
eine mag aufgrund einer demokratischen Haltung für die Verteilung zu gleichen Teilen
sein , der andere aufgrund einer aristokratischen Haltung für die Bevorzugung einer Elite.
Trotz dieser unterschiedlichen Entscheidungen müsse keiner der beiden unlogisch ent-
schieden haben. Der Unterschied käme einfach dadurch zustande , dass unterschiedliche
Haltungen bezüglich der Gemeinschaft vorhanden seien ( gemeint ist wohl der bevorzug-
ten Verteilungssituation , Ansprüchen etc. ). Letztlich laufe dies auf einen Unterschied im
Charakter hinaus. ( Carnap 1963c , 1009 )
Auch dies mag Carnap zugestanden werden. Wenn die Entscheidung aufgrund persön-
licher Haltungen ( hinsichtlich bevorzugter Gesellschaftsmodelle ) gefällt werden darf , er-
öffnet sich damit die Möglichkeit , dass unterschiedliche Entscheidungen zustande kom-
men , ohne dass jemand unlogisch entschieden haben muss. Da Moral für Carnap eine
individuelle Angelegenheit ist , mag T5 auch auf sein Verständnis von Moral zutreffen , da
es für ihn keine gemeinsamen Kriterien für das moralisch Richtige geben muss. Wenn je-
doch die Aufgabe ist , eine Entscheidung über die moralische Aufteilung der Güter zu
treffen , und man von gemeinsamen Kriterien für eine solche Aufteilung ausgeht , so trifft
T5 nicht mehr zu. Alles hängt also davon ab , ob Moral als ein individuelles oder gemein-
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441