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5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus
158 schaftliches Unternehmen verstanden wird. Eine Uneinigkeit im Verständnis des Morali-
schen als je individuelles oder inhärent gemeinschaftliches Unterfangen kommt zwar auf
sprachphilosophischer Ebene zu tragen , wird aber nicht dort entschieden.
Logische Empiristinnen und Empiristen wĂĽrden nun auch frĂĽhere Formulierungen
( z. B. in Carnap 1935 ) als Ăśber-Vereinfachungen ansehen :
We are now in agreement with Dewey’s conception [ … ] that a value statement expresses
more than merely a momentary feeling of desire , liking , being satisfied , or the like , namely
satisfaction in the long run. ( Carnap 1963c , 1009 )
Die Einsicht wird durch die Formulierung mit „wir“ wieder als kollektive präsentiert. ( „Ich
war nicht der einzige , der sich geirrt hat.“ ) Es erfolgt eine Annäherung an den Pragma-
tismus. Ein Unterschied im Verständnis von Werturteilen , der sich nun explizit als Un-
terschied auf dem Gebiet der Moral darstellt , bleibt dennoch bestehen. Diesen erläutert
Carnap anhand folgenden Beispiels : Eine Person A drückt folgendes Werturteil aus : „In
der gegebenen Situation S , in der Person B zwischen a und b wählen kann , wäre es mora-
lisch besser , wenn B a statt b tun würde.“ A führe nun für seine Entscheidung eine Reihe
von Fakten an und ein Wertprinzip , nämlich :
( a ) The evidence available to me at the present time and relevant for the present problem is
such and such [ … ].
( b ) The possible outcomes of B’s action are a’ and b’ ; both outcomes affect B himself and also
a third person C.
( c ) The action a by B would lead to the consequence a’ , and b would lead to b’.
( Carnap 1963c , 1010 )
Wir wĂĽrden dann sagen , A habe gute , rationale GrĂĽnde fĂĽr sein Werturteil ( ohne damit
sein Wertprinzip und seine Entscheidung zu akzeptieren ). Das Problem liege in der In-
terpretation des Werturteils. Carnap teilt es zunächst in zwei Behauptungen auf :
( a ) B findet sich in der Situation S und hat die Möglichkeit , entweder a oder b zu tun.
( b ) Es wäre besser , wenn B a täte anstatt b. ( Oder : B sollte a anstatt b tun. )
Nach Carnap enthält ( a ) alle kognitiven Komponenten des Werturteils , ( b ) sei ein rei-
nes Werturteil. ( Im Unterschied zur Interpretation , die Dewey angibt. )
Ein analoger Optativ wäre in L0 folgendermaßen zu formulieren : Für beliebige p und
q : Wenn p die Gesamtheit der Konsequenzen ist , die eintreten , wenn B a ausfĂĽhrt , und
q die Gesamtheit der Konsequenzen , die eintreten , wenn B b ausfĂĽhrt , so utinam p eher
als q.
Carnap versteht sowohl ( b ) als auch die Formulierung in L0 so , dass keine von beiden
kognitiven Gehalt hat. Von welcher spezifischen Art die nonkognitive Bedeutungskom-
ponente sei , d. h. ob volitiv , emotiv oder motivativ , sei unwesentlich. ( Carnap 1963c , 1011 f. )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale MoralbegrĂĽndung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 MoralbegrĂĽndung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 MoralbegrĂĽndung auf Grundlage natĂĽrlicher Ziele : Rationale MoralbegrĂĽndung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische MoralbegrĂĽndung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und BĂĽrgerinnen oder BĂĽrger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukĂĽnftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- AbkĂĽrzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441