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5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus
162 Für Carnap war alles entweder das Eine oder das Andere. „Zwischentöne , Unwägbarkei-
ten und nichtanalysierbare Übergänge widerstrebten ihm.“ ( Mormann 2000 , 36 )
Neider berichtet , Carnap sei zu keinem Affektausbruch fähig gewesen. ( Neider 1977 ,
27 ) Nicht zuletzt Wittgenstein hielt Carnap für einen „ganz engstirnigen Denker“. Carnap
war in der Wahrnehmung Krafts ein Rationalist in dem Sinne , dass nur das , „was man er-
kennen kann , überhaupt eine gedankliche Existenzberechtigung hat“. Wittgenstein hat
auch Bereiche als legitim anerkannt , die nicht unter die Erkenntnis fallen. ( Kraft in Rut-
te / Acham / Götschl / Payer 1973 , 15 ) Insbesondere dieser auf Rationalität und Wissen-
schaftlichkeit bedachte Charakter sei es gewesen , der ihn von Wittgenstein trennte. Witt-
genstein verweigerte einen weiteren Kontakt mit Carnap noch vor seiner Rückkehr nach
Cambridge im Jahre 1929. ( Patzig 1966 , 104 )
Ich hatte manchmal den Eindruck , daß die bewußt rationale und unemotionale Haltung des
Wissenschaftlers und gleichermaßen aller Ideen , die im Geruch der „Aufklärung“ standen ,
Wittgenstein zuwider waren. ( Carnap 1963a [ 1993 , 41 ])
Letztlich stand Carnap Wittgenstein in seiner Ethik jedoch sehr nahe :
Da die Wissenschaft im Prinzip alles , was gesagt werden kann , sagen kann , bleiben keine un-
beantwortbaren Fragen übrig. Doch obgleich es keine theoretischen Fragen mehr gibt , gibt
es immer noch das allgemein menschliche gefühlsmäßige Erlebnis , das aus besonderen psy-
chologischen Gründen manchmal beunruhigend ist. ( Carnap 1963a [ 1993 , 59 ])
Eine inhaltliche Enthaltsamkeit in Sachen Emotion verlangt im Übrigen keine unemoti-
onale Haltung gegenüber der Wissenschaft oder anderen Dingen gegenüber , auch wenn
dies bei Carnap so gewesen zu sein scheint. Carnaps Aussage aus der Einleitung zum Auf-
bau , dass seine Bedürfnisse des Gemüts auf methodologischer Ebene liegen , sollte ernster
genommen werden , als er selbst es darin tut. Die Art des Philosophierens mag auch bei
ihm Ausdruck des Lebensgefühls gewesen sein :
Carnap has an unformulated but quite clearly implied intellectual creed ; it might be called
“the gospel of clarity and exactitude ,” and it harks back to an ethical creed. ( Naess 1968 , 21 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441