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6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben
164 Ein Beitrag Mengers zur Ethik kann insofern keineswegs als selbstverständlich erach-
tet werden , da Menger Mathematiker war und allem voran Schriften zur Geometrie , Di-
mensions- und Kurventheorie veröffentlichte.207 In Wien widmete er sich nach einem an-
fänglichen Physikstudium ( u. a. bei Hans Thirring ) und Studien in Philosophie ( u. a. bei
Schlick ) vor allem der Mathematik ( insbesondere bei Hahn ).208 In einer sozial und poli-
tisch engagierten Familie sozialisiert ,209 beschränkten sich seine umfangreichen intellektu-
ellen Interessen jedoch nicht auf reine Mathematik , sondern ihm lag auch an der Anwen-
dung mathematischer Methoden in Praxisgebieten wie Sozialorganisation , Ă–konomie210
und eben Moral.
DarĂĽber hinaus arbeitete der junge Menger mehrere Jahre lang an einem Drama. Ar-
thur Schnitzlers Sohn Heinrich war ein Schulfreund Mengers , sodass Menger häufiger im
Hause Schnitzler zu Besuch war. Bei dieser Gelegenheit gab er Arthur Schnitzler auch das
Drama Die gottlose Komödie , an dem er Anfang der 1920er-Jahre schrieb , zu lesen. Über
das Stück , in dem es um die Päpstin Johanna geht , und seine Einschätzung der Person
Mengers machte Schnitzler Eintragungen in sein Tagebuch :
Karl Menger ; [ … ] liest mir eine neue Scene zu seinem Stück vor ( zwischen Johanna der
Päpstin und dem Ketzer ). Begabter , vielleicht genialischer Mensch ;– mit Sonderlings- und
größenwahnsinnigen Zügen. ( Schnitzler 1993 , 244 f. , Eintragung vom 2. November 1921 )
Zu Form oder Inhalt des Stückes äußert sich Schnitzler im Tagebuch in Folge nur noch
einmal kurz. Am 13. November 1920 hatte er sich eher ablehnend geäußert :
Carl Menger ( Heinis College ), dem ich über sein Stück ( Päpstin Johanna ) allerlei nicht sehr
gĂĽnstiges zu sagen hatte. Er hat gar keine dichterischen Ambitionen , will nur gerade dieses
Stück in tendenziöser Absicht gegen Religion , Katholizismus , Aberglauben schreiben. Sein
eigentlicher Beruf : Physik. Auf meine Frage nach seinen eigentlichen Plänen : „Ich möcht
mich ja eigentlich am liebsten umbringen.“ Angst vor spätern materiellen Sorgen u. s. w …Â
–
Zweifellos sehr begabter aber vielleicht nicht ganz normaler junger Mensch. ( Schitzler 1993 ,
107 , Eintragung vom 13. November 1920 )
207 Besonders bekannt wurde der sogenannte Menger-Schwamm , der in der Theorie der Fraktale eine
wichtige Rolle spielt.
208 Während dieser Zeit erkrankte Menger an Tuberkulose und verbrachte ab Herbst 1921 drei Semes-
ter im steirischen Sanatorium Aflenz , wo er seine Arbeiten in der Kurven- und Dimensionstheorie
weit voranbrachte , sodass er diese nach seiner Genesung als Dissertation einreichen konnte.
209 Sein Onkel Max Menger war ĂĽber dreiĂźig Jahre lang liberaler Reichstagsabgeordneter.
210 Menger publizierte einige bedeutende kritische Untersuchungen ĂĽber Nutzenlehre und Margina-
lismus ( u. a. Menger 1934c und Menger 1936a ) und schrieb noch nicht zwanzigjährig die Einleitung
zur zweiten Auflage der Grundsätze der Volkswirtschaftslehre , dem Hauptwerk seines Vaters aus dem
Jahre 1871.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale MoralbegrĂĽndung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 MoralbegrĂĽndung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 MoralbegrĂĽndung auf Grundlage natĂĽrlicher Ziele : Rationale MoralbegrĂĽndung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische MoralbegrĂĽndung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und BĂĽrgerinnen oder BĂĽrger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukĂĽnftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- AbkĂĽrzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441