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6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben
166 1929 bis 1936 leitete und das manchen als ein zweiter Wiener Kreis gilt , so beispielswei-
se Stadler ( Stadler 1997a , 453 ).214
Nachdem man Menger 1937 eine ordentliche Professur verweigerte ,215 emigrierte er
noch im selben Jahr in die USA , wo er als Professor fĂĽr Mathematik lehrte und nach dem
Anschluss Rückkehrpläne aufgab. Zunächst war er an der Universität von Notre Dame ,
Indiana , tätig.216 Er gründete dort im Geiste seines Mathematischen Kolloquiums aus der
Wiener Zeit ein weiteres Mathematisches Kolloquium. Ebenso setzte er seine Publikati-
onsreiheÂ
– nun unter dem Titel Reports of a Mathematical Colloquium , Second SeriesÂ
– zwi-
schen 1938 und 1946 fort. SchlieĂźlich lehrte er ab 1946 bis zu seiner Emeritierung 1971 am
Illinois Institute of Technology in Chicago , wo er 1985 verstarb. In Chicago hatten Carnap
und Charles W. Morris einen Diskussionszirkel , den Chicago Circle , gegrĂĽndet , an dem
Menger schon zu seiner Zeit in Notre Dame so oft wie möglich teilnahm.
Nach Europa war Menger nur zu Gastaufenthalten zurĂĽckgekehrt , und zwar nach Ă–s-
terreich erst wieder 1963 auf Einladung des Instituts für Höhere Studien , das soeben von
Oskar Morgenstern und Paul Lazarsfeld gegrĂĽndet worden war. ( Sigmund 1998 , 12 )217
Was veranlasste Menger dazu , sich neben mathematischen Problemstellungen Fragen
der Ethik und der Moral zuzuwenden ? Moral , Wille und Weltgestaltung erschien 1934.218
Schon im zweiten Satz lässt Menger die Leserinnen und Leser wissen , ethische und morali-
sche Fragen beschäftigten ihn schon seit langem. Spätestens durch die politischen Umstän-
de ab 1933 sei er an Moral interessiert gewesen , teilt er diesbezĂĽglich in seinen Erinnerun-
gen an die Wiener Zeit mit , die 1994 unter dem Titel Reminiscences of the Vienna Circle and
the Mathematical Colloquium als Band 20 der Vienna Circle Collection veröffent
licht wurden :
While the political situation in Austria during the winter of 1933–34 made it extremely dif-
ficult to concentrate on pure mathematics , socio-political problems and questions of ethics
214 Beiträge des Kolloquiums wurden zwischen 1931 und 1936 unter dem Titel Ergebnisse eines Mathema-
tischen Kolloquiums zunächst im Teubner Verlag und später im Deuticke Verlag in acht Bänden veröf-
fentlicht. Für den gesammelten Nachdruck der Kolloquiums-Beiträge siehe Dierker / Sigmund 1998.
Mitglieder waren u. a. Gustav Bergmann , Kurt Gödel , Hans Hahn , John von Neumann , Karl Pop-
per , Helene Reschovsky , Alfred Tarski , Olga Taussky , Hans Thirring und Abraham Wald. Die Tref-
fen fanden dienstags statt.
215 Er wurde bei der Nachfolge der Lehrkanzel des verstorbenen Wilhelm Wirtinger nicht berĂĽcksich-
tigt , Hahns Lehrstuhl war nach dessen Tod 1934 nicht nachbesetzt worden. ( Dazu und zu weiteren
Lebensdaten siehe z. B. Stadler 1997a , 726 f. )
216 Ein Brief von Marston Morse an Menger vom 19. August 1935 legt nahe , dass Menger daran inter-
essiert war , an einer Katholischen Universität zu arbeiten. ( Siehe Leonard 1998 , 23 , Fn. 40 )
217 1971 wurde Menger zum korrespondierenden Mitglied der Ă–sterreichischen Akademie der Wissenschaf-
ten gewählt. 1975 erhielt er bei einer Zeremonie in Chicago wie schon viele Jahre zuvor sein Vater das
Ă–sterreichische Bundesverdienstkreuz fĂĽr Wissenschaft und Kunst. ( Sigmund 1998 , 12 )
218 Menger trug ĂĽber dieses Buch auch in seinem Mathematischen Kolloquium vor ( 30. Mai 1934 ) (=
Menger 1934b ). Dabei handelt es sich um Ergänzungen mathematischer Natur.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale MoralbegrĂĽndung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 MoralbegrĂĽndung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 MoralbegrĂĽndung auf Grundlage natĂĽrlicher Ziele : Rationale MoralbegrĂĽndung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische MoralbegrĂĽndung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und BĂĽrgerinnen oder BĂĽrger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukĂĽnftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- AbkĂĽrzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441