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6.2 Mengers Logik der Sitten
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Noch größere Gruppen lassen sich bilden , wenn nur wichtige Gegensätze ausgeschlos-
sen werden. Dazu nimmt Menger an , Menschen seien manche Normen wichtig , man-
che nicht.
Gruppen ohne wichtige Gegensätze : Wenn man irgendwie zwei Menschen einer und der-
selben Gruppe herausgreift , nehmen sie hinsichtlich jeder ihnen beiden wichtigen Norm
eine übereinstimmende – sei es billigende oder missbilligende – Haltung ein. ( Menger
1934a [ 1997 , 132 ])
Eine Reihe mathematischer Verallgemeinerungen und Komplikationen in mehrerlei
Hinsicht , die Menger im Anschluss daran anstellt , sind für die Thematik dieser Untersu-
chung nicht weiter von Belang ( Dualitätsprinzip , Disjunktivnormen etc. ), sodass sie hier
ohne Weiteres übergangen werden können.
Übereinstimmung bei unterschiedlichen Forderungen an sich selbst und an die anderen :
Von Relevanz ist jedoch , was Menger über das Zusammen- bzw. Auseinanderfallen von
Forderungen an sich selbst und an andere sagt. Weitere Einteilungen lassen sich näm-
lich beispielsweise dahingehend treffen , dass die Stellungnahme zu einer Norm für die
Regelung des eigenen Verhaltens nicht mit der Stellungnahme zur selben Norm für
die Regelung des Verhaltens anderer übereinstimmt. Dass eine Norm für das eigene
und für fremdes Verhalten akzeptiert wird , ist für Menger nicht selbstverständlich und
wird von ihm nicht einmal für moralische Normen als notwendig erachtet. Dies ist ei-
ner der Gründe , warum er den Kategorischen Imperativ kritisiert , wie ich weiter un-
ten näher ausführen werde.226
Zur Veranschaulichung der Einteilungen in verschiedene Gruppen und wichtiger Be-
ziehungen zwischen den Individuen innerhalb einer Gruppe und den Gruppen zueinan-
der wählt Menger folgendes Beispiel ( Menger 1934a [ 1997 , 166 ff. ]):
N : Wahre im Umgang mit Menschen stets gewisse Formen der Höflichkeit !
Wir machen nun zwei Einteilungen auf der Verhaltensebene. Zunächst eine , die unser ei-
genes Verhalten betrifft : Einen Menschen , der sein eigenes Verhalten stets dieser Norm
–
interpretiert als Imperativ
– gemäß einrichtet , bezeichnet Menger als höflich. Einen Men-
schen , der sein Verhalten nicht immer dieser Norm gemäß einrichtet , als unhöflich. Wir
haben also eine Zweiteilung in die Höflichen und Unhöflichen.227
Nun treffen wir eine zweite Einteilung , die das Verhalten der anderen anbelangt :
Wir teilen nun in die Empfindlichen und in die Unempfindlichen auf. Empfindlich sind
Menschen , die Wert darauf legen , nur mit höflichen Menschen zu verkehren. Unemp-
findlich sind Menschen , denen die Höflichkeit der mit ihnen verkehrenden Menschen
gleichgültig ist.
226 Kritik auch in Menger ( 1994 , 182 ).
227 Warum Menger hier nur eine Zweiteilung vornimmt , geht aus dem Text nicht hervor.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441