Page - 184 - in Ethik und Moral im Wiener Kreis - Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Image of the Page - 184 -
Text of the Page - 184 -
6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben
184 len „I. M.“ tragen ,236 in Zweifel. Er teilte Menger , den er erst kürzlich kennen gelernt hatte ,
schriftlich mit , wie er diese ethische Schrift beurteile.237 In einer ersten Reaktion bedank-
te er sich für das geistreiche Buch , an dem er trotz seiner von Mengers so sehr verschiede-
nen philosophischen Voraussetzungen viel Freude gefunden habe. ( Bochenski an Menger ,
30. Oktober 1934 , Menger Papers , Illinois Institute of Technology , Chicago )238 In einem
späteren Brief sendet Bochenski eine differenzierte Kritik. Schwierigkeiten hat Bochenski
mit den philosophischen Ausführungen. Als Thomist kann er Mengers ablehnende Ant-
wort auf die Frage nach der Möglichkeit einer allgemeingültigen Ethik ( Moral ) nicht un-
terstützen. Einverstanden erklärt er sich jedoch mit der Ansicht , dass Weltanschauungen
nicht „bewiesen werden können“. Auch er sei der Ansicht , die letzten Grundlagen einer
Weltanschauung bauten auf dem Willen auf und seien eben nur Postulate. Das sehe auch
Thomas von Aquin so. Daran würden dann jedoch komplizierte Fragen nach den Entschei-
dungsgründen anschließen. Am meisten Interesse Bochenskis erweckt jedoch Mengers Be-
merkung , für das Volitive würden andere Schlussregeln gelten als für das gewöhnliche „In-
tellektuelle“. Bochenski bittet Menger , doch eine Logik des Volitiven zu entwerfen , da ihn
ein System der inneren Beziehungen zwischen den Thesen mehr interessiere als die Bezie-
hungen zwischen Subjekten , die verschiedene Normen anerkennen.
In Mengers Moralverständnis ist damit jedoch nicht ausgeschlossen , dass auf Grund-
lage der in einem System enthaltenen Normen keine überpersönlich verbindlichen Ur-
teile über die Angemessenheit eines Verhaltens gefällt werden könnten. Das System ist ,
trotz seiner möglichen Binnendifferenzierung , für alle verbindlich , die ihm zugestimmt
haben , und bietet ihnen einen gemeinsamen Beurteilungsmaßstab. Wobei Menger für ein
sehr differenziertes System optieren würde. Intersubjektive Urteile relativiert auf ein Nor-
mensystem sind für Mengers Auffassung von Moralen jedenfalls kein Problem. Insofern
ist auch eine Verständigung und diskursive Auseinandersetzung möglich. Was seiner An-
sicht nach nicht möglich ist , ist eine Verankerung außerhalb des individuellen Willens.
Wir finden also einen systemimmanenten Kognitivismus.
Menger lehnte in der Mathematik Brouwers Intuitionismus entschieden ab , wie er in
„Der Intuitionismus“ schon 1930 öffentlich klarstellte. Nicht nur sei der Intuitionismus
nicht geeignet , allgemein verbindlich zu entscheiden , welche mathematischen Systeme
gültig seien und welche unakzeptabel oder „sinnlos“, sondern die Mathematik bestehe nur
aus Sätzen erster Ordnung und Transformationsregeln , nicht jedoch aus Sätzen zweiter
Ordnung , die festlegten , welche Sätze erster Ordnung gültig seien oder nicht. Die Ma-
thematik müsse hier so weit wie möglich tolerant sein. ( Menger 1930 ) Sie schließe zwei-
erlei Freiheiten ein : zum einen die Freiheit in der Wahl der Axiome und zum anderen die
236 Näheres zu Leben und Werk Bochenskis siehe u. a. Morscher / Neumaier 1990.
237 Einer Einladung ins Mathematische Kolloquium konnte Bochenski nicht nachkommen. ( Bochen-
ski an Menger , 28. Oktober 1935 , Menger Papers , Illinois Institute of Technology , Chicago )
238 Für die Hilfe bei der Zugänglichmachung dieser Briefe danke ich Robert Leonard herzlich.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441