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6.4 Mengers Ethikverständnis
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Handelt es sich bei Moral , Wille und Weltgestaltung aber überhaupt um einen ethischen
Beitrag ? Oder ist Menger eine klare Themenverfehlung unterlaufen ? Es ist , wie Menger
in einem Gespräch , das den mathematisch-logischen Aufzeichnungen vorangestellt ist ,
seinem Gegenüber klagend in den Mund legt , eine „Ethik ohne Gut und Böse , ohne Sitt-
lich und Unsittlich“.
Aber ist damit nicht auch ihr Urteil gesprochen ? Sind das nicht ethische Bestrebungen , wel-
che ihren Gegenstand verfehlt haben ? Kann man derlei überhaupt Ethik nennen ? Gleicht es
nicht einer Zoologie , die nicht von Tieren , einer Astronomie , die nicht von Sternen spricht ?
( Menger 1934a [ 1997 , 95 f. ])245
Menger antwortet darauf , er lege bei keiner Wissenschaft auf die klare Abgrenzung wert.
Wissenschaften würden teils durch die in ihnen verwendeten Wörter , aber auch teils durch
historische Zufälle zusammenhängen. Strenge Abgrenzungen hinsichtlich Gegenstand
oder Methode seien gänzlich nutzlos. ( Menger 1934a [ 1997 , 96 ])246 Ihm selbst sei es nicht
besonders wichtig , seine Untersuchungen der Ethik zuzuordnen , doch sehe er anderer-
seits keinen Grund , sie aus diesem Gebiet auszuschließen :
Wenn du es aber unbedingt wünschst , so schließe sie aus und gib ihnen einen eigenen Na-
men ! ( Menger 1934a [ 1997 , 97 ])
Wem es beliebe , der könne sogar den für viele pejorativen Ausdruck „Ethistik“ verwen-
den. ( Menger 1934a [ 1997 , 197 ])247
Wenn „ethical position“ in einem weiten Sinne verstanden wird , so ist Leonard zuzu-
stimmen :
245 Carnap war von dem Buch nicht begeistert. Seine Frau berichtet an Olga Neurath : „von der men-
gerschen ethik war der carnap nicht sehr begeistert ; er sagte , die mathematischen teile wären natür-
lich sehr gut , aber im ganzen hat der inhalt nichts mit dem titel zu tun und ausserdem ‚was soll mich
das ?‘ “ ( I. Carnap an O. Neurath , 13. Jänner 1935 , Rudolf Carnap Collection , ASP RC 029–20–01 )
246 Selbst die Grenzen der Verwendung des Wortes „Geometrie“ seien schwankend und änderten sich
über die Zeit hinweg. ( Menger 1934a [ 1997 , 103 ]) Wobei Menger die Analogien der Geometrie zur
Ethik nicht allzu groß scheinen. Am ehesten könnten sich noch jene auf die Geometrie berufen , die
die Möglichkeiten und das Vorhandensein verschiedener Normensysteme feststellten. ( Menger 1934a
[ 1997 , 104 ])
247 Er wäre für „Soziologistik“. Die Theorie sei auch weiter anwendbar , was nicht gegen sie spreche.
( Menger 1934a [ 1997 , 198 ]) Aber : „[ … ] man könnte ja Gruppen ähnlich den in den vorangehen-
den Aufzeichnungen gebildeten auch nach unethischen , vor allem nach rein ästhetischen oder nach
wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten zusammenfassen – letzteres wäre übrigens vielleicht für die
Theorie des wirtschaftlichen Handelns gar nicht so nutzlos
– , aber z. B. auch nach rein linguistischen
Gesichtspunkten.“ ( Menger 1934a [ 1997 , 197 f. ])
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441