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7. Otto Neurath : Moral
204 liothek Kiel )276
Näheres über die geplante Arbeit schildert Neurath in einem Brief aus dem
Jahre 1909. Einzelne Kapitel sollten von Mittel und Zweck , Toleranz und Autorität han-
deln. Beispielsweise wollte er auf die Frage eingehen , wie ein vernünftiger Staatsmann mit
Nationalitätskonflikten umgehen solle , wie sie damals in Wien aufgeflammt waren. Neu-
rath schwebte eine Lösung analog zu religiöser Toleranz vor. Entscheidend war für Neu-
raths Herangehensweise , dass für ihn Politik als ein Teil der Moral galt :
Wenn jemand mit unserer Staatsordnung unzufrieden oder zufrieden ist , so gehört das in
seine Moral hinein. ( Neurath an Tönnies , 1909 , Nachlass Ferdinand Tönnies , Signatur Cb
54.56 :538–540 , Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek Kiel )
Moralische Überlegungen sollten sich nicht auf Verfehlungen wie Stehlen und Töten be-
schränken , denn Moral ( Neurath : Ethik ) und die Gesamtlebensordnung gehörten zu-
sammen :277
Die grossen Fragen der Zeit , die Organisation unserer Wirtschaft , die Politik werden gar
nicht mehr genügend ethisch gewürdigt , man behandelt dies alles gewissermassen als gege-
ben und wenn darüber Reflexionen angestellt werden , so immer überaus schüchtern. Dass die
Ethik das gesamte Gebiet der Lebensordnung ihrer Betrachtung zu unterwerfen habe , geht
ganz verloren. ( Neurath an Tönnies , Juli / August 1909 , Nachlass Ferdinand Tönnies , Signa-
tur Cb 54.56 :538–540 , Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek Kiel )
Die Idee einer Gesamtlebensordnung würde sich am ehesten noch bei den Sozialisten
( und den Christlich-Sozialen ) finden :
Bei den Sozialisten sieht man es noch am ehesten , dass die Lebensordnung ein ganzes [ sic ! ]
ist , in dem Ethik , Sitte , Recht , Politik nur zufällig Abgrenzungen bilden , die tatsächlichen
Erscheinungen sind wichtig , nicht ob etwas zufällig gesetzlich fixiert ist order [ sic ! ] nur
276 Neurath hatte Jodl bereits in seinem Lebenslauf , der der Doktorarbeit beigefügt war , erwähnt. ( Ue-
bel 2000 , 310 ) Soweit bekannt , war Neurath jedoch nie Mitglied in der Ethischen Gesellschaft , obwohl
auch sein Mentor Tönnies in der deutschen Gesellschaft für Ethische Kultur wirkte. Insbesondere die-
se Mitgliedschaft und seine Solidarisierung mit den Arbeitern beim „Großen Hafenarbeiterstreik“
1896/97 in Hamburg führten dazu , dass Tönnies erst 1913 mit 58 Jahren „ordentlicher Professor“ wur-
de. Mit Hitlers Machtantritt 1933 wurde er aufgrund seiner Warnungen vor dem Nationalsozialismus
ohne Bezüge aus dem universitären Dienst entlassen und erhielt faktisch Schreibverbot. Am 9. Ap-
ril 1936 verstarb Tönnies verarmt in Kiel.
277 Neurath fühlte sich von Kant abgestoßen , angezogen von Mill , Guyau , Bentham und Fouillé. ( Neu-
rath an Tönnies , 1909 , Nachlass Ferdinand Tönnies , Signatur Cb 54.56 :538–540 , Schleswig-Holstei-
nische Landesbibliothek Kiel )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441