Page - 205 - in Ethik und Moral im Wiener Kreis - Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Image of the Page - 205 -
Text of the Page - 205 -
7.2 Neuraths Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode
205
durch die Moral geboten ist. ( Neurath an Tönnies , Juli / August 1909 , Nachlass Ferdinand
Tönnies , Signatur Cb 54.56 :538–540 , Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek Kiel )
Neurath war in der Folgezeit jedoch mit anderen Arbeiten und Unterricht zu belastet , um
die Arbeit voranzutreiben. Zumal er sich den Weg in die Nationalökonomie und zu einer
Berufung nach Deutschland offenhalten wollte , wie er Tönnies gesteht :
Daher liegt mir daran , dass ich noch vor meiner Habilitation als Nationalökonom und Sozi-
alwissenzchaftler [ sic ! ] gelte , um nicht als reiner Philosoph und Ethiker rubriziert zu werden.
( Neurath an Tönnies , Dezember 1909 , Nachlass Ferdinand Tönnies , Signatur Cb 54.56 :538–
540 , Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek Kiel )
Die Arbeit wurde nie vollendet , die Entwürfe sind nicht erhalten. Ob darin Neurath wer-
tend Stellung genommen hätte , muss unbeantwortet bleiben. Neurath erwähnt die Schrift
noch 1910/11. Dann stirbt seine Frau Anna Schapire-Neurath.278 Neurath hat sich um sei-
nen Sohn zu kümmern und ist beruflich anderweitig beschäftigt. 1914 stirbt Jodl. Diese
philosophische Habilschrift wird sodann auch im Briefwechsel mit Tönnies nicht mehr
thematisiert. Der Bezug von Neuraths Arbeiten zur Moral tritt in den Hintergrund , bleibt
dort jedoch als Rahmen seiner Beiträge zu gesellschaftlichen , insbesondere ökonomischen
Ordnungen , wirksam.
Schon früh entwickelte Neurath ein Konzept der zentralen Verwaltungswirtschaft. Er
tat dies lange vor dem Ersten Weltkrieg und zunächst auch ohne marxistische Vorzeichen.
( Nemeth 1990 , 76 ) Von 1907 bis 1914 war er an der Neuen Wiener Handelsakademie als
Lehrer für Volkswirtschaft tätig. In dieser Zeit schrieb er seine ersten größeren national-
ökonomischen Arbeiten , wie beispielsweise „Zur Theorie der Sozialwissenschaften“ ( 1910 )
und „Nationalökonomie und Wertlehre , eine systematische Untersuchung“ ( 1911 ). Mit sei-
ner Frau stellte er zudem ein zweibändiges Lesebuch der Volkswirtschaftslehre ( 1910 ) zusam-
men. Auch erste Arbeiten über Kriegswirtschaftslehre entstanden ( siehe unten ).
Das Anliegen dahinter und die inhaltliche Ausrichtung übernahm Neurath hierbei
vor allem von zwei Wissenschaftlern : zum einen von seinem Vater , Wilhelm Neurath
278 Anna Schapire-Neurath ( 1877–1911 ) hatte in Wien , Berlin und Bern Germanistik , Philosophie und Nati-
onalökonomie studiert. Sie war eine engagierte Feministin und veröffentlichte eine Reihe von Artikeln in
der Zeitschrift Neues Frauenleben. Im Jahr 1908 erschien ihr Buch Die Frau und die Sozialpolitik. Mit ihr
veröffentlichte Neurath auch eine vom Autor selbst autorisierte deutsche Übersetzung von Francis Gal-
tons Genie und Vererbung ( 1910 ). Schapire-Neurath starb kurz nach der Geburt des gemeinsamen Kindes
Paul. Im Jahr darauf ehelichte Neurath die Mathematikerin Olga Hahn ( eine Schwester Hans Hahns ),
die im 23. Lebensjahr erblindet war. Zu Galtons Buch siehe Meissl ( 1982 , 113 f. ). Mit Olga Hahn hatte
O. Neurath vor der Eheschließung die Aufsätze „Zum Dualismus in der Logik“ ( 1909a ), „Zur Axioma-
tik des logischen Gebietskalküls“ ( 1909b ) und „Über die Koeffizienten einer logischen Gleichung und
ihre Beziehung zur Lehre von den Schlüssen“ ( 1910 ) verfasst. Zu O. Hahn siehe auch Korotin 1997.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441