Page - 206 - in Ethik und Moral im Wiener Kreis - Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Image of the Page - 206 -
Text of the Page - 206 -
7. Otto Neurath : Moral
206 ( z. B. Neurath W. 1880 und 1892 ), zum anderen vom Sozialreformer Josef Popper-Lyn-
keus. Popper-Lynkeus ging es wie Mach um eine systematische Verbindung zwischen po-
litischer Ökonomie , Werttheorie , Entscheidungstheorie und einer Theorie der Lebens-
bedingungen , wie ich in Kapitel 4 der vorliegenden Untersuchung bereits darlegte. In
einem kleinen Beitrag für die Zeitschrift Neues Frauenleben äußerte sich Neurath 1918 po-
sitiv über Popper-Lynkeus , diesen „Eiferer für Güte und Glück“, dem es als wichtigste
Aufgabe erschien , „das Dasein des einzelnen zu sichern , jedem , und sei er der unbedeu-
tendste Mensch , seinen Anteil am Glück zu wahren“. Popper-Lynkeus hätte erkannt , wie
das Glück von den institutionellen Rahmenbedingungen abhinge , und er habe zu zeigen
versucht , wie „man eine glückhaftere Lebensordnung schaffen könnte“. ( Neurath 1918b
[ 1981a , 133–135 ]) Darin trat er als klares Vorbild Neuraths auf. Wilhelm Neurath war wie
Popper-Lynkeus in der „Sozialen Frage“ äußerst engagiert und übte wie dieser am beste-
henden Wirtschaftssystem heftige Kritik :
Woher stammt , und warum besteht das Elend , woher die Armuth der Masse neben der Fül-
le und dem Reichthume der Wenigen in der Gesellschaft ? Warum ist dem Einen von dem
Augenblicke an , in welchem er das Licht des Tages zum ersten Male erschaut , das Leben ein
Weg des Entbehrens , des Jammers und der Plage , während dem Anderen die Bahn zu Ge-
nuß , zu Glanz und Würden schon geebnet ist , bevor er noch wollen und streben gelernt ? Wa-
rum sind Plage und Genuß , Arbeit und Erwerb so ungleich an die Glieder des Volkes ver-
theilt , daß man beinahe sagen könnte , es sei um so größer , je geringer die Arbeit , und daß
am traurigsten das Los Derjenigen sei , die sich am meisten im Dienste des Ganzen mühen
und plagen ? ( Neurath W. 1880 , 27 ; zit. n. Neurath P. 1994 , 22 )
Der Sohn Otto Neuraths , der Soziologe Paul Neurath , sieht in seinem Großvater mit gu-
tem Grund einen für seine Zeit ungewöhnlich aufgeschlossenen und eigenwilligen Libe-
ralen mit ungewöhnlich progressiven Ideen zur Lösung der „Sozialen Frage“. ( Neurath P.
1994 , 21 ) Otto Neurath war sich des Einflusses seines Vaters durchaus bewusst :
Aufgewachsen in der Gedankenwelt meines Vaters , war ich von früher Jugend an von der
Anschauung erfüllt , daß die überlieferte Wirtschaftsordnung mit ihren Krisen , ihrem Elend
grundsätzlich außerstande sei , die Menschen zu beglücken. ( Neurath 1919b , VII )
Während des Ersten Weltkrieges hatte er nun auch persönlich die Erfahrung gemacht ,
wie die Aufhebung der Marktwirtschaft zugunsten einer zentralen Planwirtschaft die Ver-
sorgung der Bevölkerung steigern kann. ( Nemeth 1990 , 77 ) Doch bereits 1913 hatte Neu-
rath angenommen , die Wirtschaft würde während des Krieges effizienter arbeiten , weil
zu dieser Zeit die Steuerung nicht über den Markt , sondern über zentrale Planung ge-
schehe. ( Neurath 1913c ) Neurath hielt diese Planwirtschaft danach auch für Friedenszei-
ten für besser und entwarf den Plan einer Sozialisierung :
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441