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7.2 Neuraths Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode
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Ist es so unverständlich , wenn immer mehr Menschen die Frage aufwerfen , ob man nicht in
ähnlicher Weise Friedensziele erstreben könne , wie man so lange Kriegsziele erstrebt habe ?
Ist es so unverständlich , wenn die Menschen nun ungeduldig an die Pforte der Zukunft po-
chen und fragen , ob der Jammer , den sie früher gekannt , weiter dauern müsse , ob nicht die
großen Generale und Politiker des Kampfes um das menschliche Glück unter Mißachtung
überlieferter Formen , unter Umstellung der Industrien neue Lebensordnungen herauffüh-
ren könnten ? ( Neurath 1919c , 230 )
Neurath trat nun für eine „Verwaltungswirtschaft“ ein. In dieser Verwaltungswirtschaft ist
nicht das Profitstreben individueller Unternehmerinnen oder Unternehmer für die Pro-
duktion und Verteilung der Güter ( insbesondere von Nahrung , Kleidung und Wohnung )
bestimmend , sondern die Erhöhung der Glückssumme für alle Menschen. ( Neurath P.
1994 , 40 ) Letztlich ist sein Wirtschaftsprogramm damit moralisch begründet , wenn die
Erhöhung der Glückssumme für alle Menschen als moralisches Ziel betrachtet wird. Auch
der zunehmende Bezug zum Marxismus wird an dieser Rahmensetzung nichts ändern.
( Siehe Abschnitt 7. 3. 2 unten )
Es gibt in diesem Wirtschaftskonzept kein zentrales Tauschmittel mehr , sondern eine
komplexe Gesamtorganisation. Privatunternehmen sind möglich , solange sie die Produk-
tion der zentralen Kontrolle unterwerfen. ( Nemeth 1990 , 80 ) Die Marktwirtschaft ( bei
Neurath „Verkehrswirtschaft“ ) sei hingegen obsolet.279
Da die Menschen sich an schwerwiegende Maßnahmen ohnehin gewöhnt hätten , wäre
die Nachkriegszeit das geeignete Umfeld , diese grundlegende Änderung der Wirtschafts-
ordnung anzugehen :
Das Konstruieren wirtschaftlicher Möglichkeiten , wie es gelegentlich ein Fourier , Cabet ,
Popper-Lynkeus , Atlanticus , Wilhelm Neurath , Hertzka , Franz Oppenheimer usw. versuch-
ten , ist heute an der Tagesordnung ; die Utopie ist gesellschaftsfähig geworden. ( Neurath
1917a ; zit. n. Nemeth 1994 , 107 f. )
Nachdem Neurath bis 1919 nur ein theoretisches Leben geführt hatte , wollte er nun ein
Mensch der Tat werden , wie er 1919 im Geleitwort zur Sammlung seiner eigenen Aufsät-
ze Durch die Kriegswirtschaft zur Naturalwirtschaft280 offiziell ankündigt :
Allem politischen Leben abhold , beschäftigte ich mich rein betrachtend mit dem Möglichen
und Zukünftigen , ohne selbst handelnd einzugreifen.
Wenig später heißt es :
279 Damit machte Neurath sich in den Wirtschaftswissenschaften zum Außenseiter.
280 Bei der Naturalwirtschaft handelt es sich um eine Wirtschaft , die auf Geld verzichtet.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441