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7.2 Neuraths Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode
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bestimmte Institutionen , wie Geldwirtschaft und Naturalwirtschaft , freie Konkurrenz und
Merkantilismus , daraufhin zu untersuchen , ob sie unter gegebenen Umständen das Glück-
maximum realisieren können , oder nicht. ( Neurath 1912 [ 1981a , 47 ])282
Äußerungen dazu würde man gewöhnlich nur „als Eröffnungs- oder Schlussfanfare“ an-
treffen , „während der eigentliche Kern der Untersuchung sich auf Preise , Güterbewegung ,
Bevölkerungsfragen bezieht , nicht aber auf die Lustmenge , welche erzeugt wird“ ( Neurath
1912 [ 1981a , 47 ]).283 Neurath schiebt das Lustmaximum als Zweck der Ökonomie nicht in
periphere Bemerkungen ab , sondern rückt es ins Zentrum ökonomischer Überlegungen.
Neurath setzt sich aber schon in den erwähnten Werken „Nationalökonomie und Wert-
lehre“ ( 1911 ) und insbesondere auch in „Das Problem des Lustmaximums“ ( 1912 ) mit der
Schwierigkeit auseinander , Lust bzw. Glück zu messen und / oder zu vergleichen. Die
Zielsetzung der Nationalökonomie , etwas über die Lust bzw. das Glück der Menschen
auszusagen , stellt Neurath hingegen nicht infrage. Aufgrund der Schwierigkeiten des Er-
fassens , Messens und Vergleichens von Lust sucht er jedoch nach gangbaren Auswegen.
Bereits 1913 schlägt er vor , anstatt der Lust die Lustursachen statistisch zu erfassen :
Da sich der statistischen Erfassung der Sensationen [ Lust und Unlust ; A. S. ] große Schwie-
rigkeiten in den Weg stellen , muß man die Statistik der Sensationenursachen als Surrogat ver-
wenden. ( Neurath 1913c [ 1998b , 216 ])
Diese Ursachen sieht Neurath in Nahrung , Kleidung , Wohnung usw. , und damit in je-
nem , was er in den Folgejahren mit dem Begriff „Lebenslage“ zusammenfassen wird. ( Sie-
he Abschnitt 7. 3. 4.2 unten )
Das Ziel einer Sozialisierung der Wirtschaft war für Neurath von Anfang seiner öko-
nomischen Studien an , die Lustsumme der Menschheit zu vergrößern. Seine ökonomi-
schen Studien dienen einem moralischen Zweck , nämlich der Maximierung der menschli-
chen Lustsumme , des menschlichen Glücks. Selbst vor dem Ausdruck „Menschenwürde“
schreckt Neurath nicht zurück :
[ … ] der volle Sozialismus strebt die unmittelbare Herrschaft des Volkes über die Wirtschaft
nicht nur als ein Mittel an , um die sozialistische Wirtschaftsplastik zu verwirklichen , son-
dern auch als Selbstzweck im Interesse wahrer Menschenwürde. ( Neurath 1920b [ 1994 , 207 ])
So Neurath im Buch Vollsozialisierung , das 1920 im Verlag Diederichs erschien. Ebenso
äußert sich Neurath im selben Jahr in Bayrische Sozialisierungserfahrungen :
282 Es handelt sich hierbei um einen Vortrag vor der Philosophischen Gesellschaft der Universität Wien , der
in derem Jahrbuch veröffentlicht wurde.
283 Zu dem , was Neurath hier aus der Spieltheorie alles vorweggenommen hat , siehe Köhler ( 1982 , 109 ).
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441