Page - 210 - in Ethik und Moral im Wiener Kreis - Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Image of the Page - 210 -
Text of the Page - 210 -
7. Otto Neurath : Moral
210 So wie man die Volkswirtschaft durch ein Hindenburgprogramm dem Kriege dienstbar ma-
chen konnte , müßte man sie auch dem Glück aller dienstbar machen können. ( Neurath
1920a [ 1994 , 214 ])
Aber geht mit dieser Zielsetzung ökonomischer Studien nicht die Umformung der Nati-
onalökonomie in eine moralische ( in der Sprache Neuraths : ethische ) Wissenschaft ein-
her ? Nein , stellt Neurath schon früh klar. Die Nationalökonomie befasse sich nämlich
nicht damit festzustellen , was Reichtum sei
– also der Definition von Lust oder Glück
– ,
sondern damit , wie eine Organisation auf die Reichtumsgröße wirke. Insofern könne der
Reichtum Gegenstand einer wissenschaftlichen Disziplin sein , ohne dass dies mit Zwe-
cken , Zielen und Sollen zu tun hätte. Durch eine „Ethisierung“ ( auch bei Neurath un-
ter Anführungszeichen ) könne der Bereich der Fragen enger gezogen werden , an ihnen
selbst werde aber nichts geändert. Die Ethisierung komme
– ganz im Einklang mit We-
bers Forderung nach Wertfreiheit der Wissenschaften – nur in der Auswahl der Fragen
zum Tragen :
Ob man nun die sittlichen Bewertungen als Lust und Unlust in Rechnung zieht oder gege-
bene Einrichtungen , die Lust und Unlust erzeugen , einer sittlichen Bewertung unterzieht ,
der wissenschaftliche Charakter der Nationalökonomie wird dadurch in keiner Weise beein-
trächtigt ; sie wird dadurch ebensowenig „ethisiert“, wie die Chemie „hygienisiert“ wird , wenn
man die hygienische Bewertung bestimmter chemischer Verbindungen festzustellen sich be-
müht. ( Neurath 1913b [ 1981a , 70 ])
Als Wissenschaft habe sich die Nationalökonomie auf Aussagen zu Zweck-Mittel-Rela-
tionen zu beschränken.284 Dass die Definitionsfrage und mit ihr die Zielbestimmung da-
durch nicht verschwindet , sondern der Wissenschaft vorgelagert und in ihr als unproble-
matisch vorausgesetzt wird , kümmert Neurath wenig. Als Theoretiker geht es ihm nicht
darum , normative Aussagen zu machen. Schon 1910 teilte er in „Zur Theorie der Sozial-
wissenschaften“, einem Rezensionsaufsatz zu Wundts Logik , mit :
Meint ein Theoretiker , die freie Konkurrenz sollte eingeführt werden , so beruht dies auf De-
duktionen , deren Resultat der Satz ist : „Diese Form der Preisbildung bringt allen den größ-
ten Nutzen“, was zweifellos eine wissenschaftlich völlig einwandfreie Behauptung ist. Über
die Gegenwart würde dieser Theoretiker bemerken , daß sie eben nicht das Maximum liefe-
284 Neurath war in jener Zeit in Diskussionsforen des Vereins für Sozialpolitik aktiv , in dem ein Wertur-
teilsstreit tobte. Die jungen – stellvertretend für sie Weber – und mit ihnen Neurath wandten sich
gegen den Paternalismus der Gründergeneration. ( Uebel 2000 , 301 f. ) Neurath distanziert sich je-
doch von Weber , wo dieser vom „Geist“ der Zeitalter als bewegender Kraft im Sozialen spricht und
für eine „verstehende Soziologie“ eintritt. ( Neurath 1931 [ 1981a , 461 ff. ])
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441