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7.2 Neuraths Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode
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re. Ich möchte darauf hinweisen , daß der Gegensatz von „sein“ und „sollen“, der heute sehr
beliebt ist , ohne einen klaren Sinn gebraucht zu werden pflegt. Da gewöhnlich daran , daß
ein Nationalökonom vom Sollen spricht , ein Vorwurf verknüpft wird , sei mit ein paar Wor-
ten auf diese Frage hingewiesen.
Say gehörte wohl mit zu den ersten , welche mit Emphase verkündeten , die Wissenschaft
habe seit Adam Smith überaus gewonnen , da sie nicht mehr Befehle gebe , sondern Aussa-
gen über den Zusammenhang der Dinge mache. ( Neurath 1910 [ 1981a , 40 f. ])
Ebenso dort :
Die großen Begründer der Nationalökonomie haben immer wieder geforscht , wie Armut und
Reichtum mit der Güterverschiebung zusammenhängen , ob nicht vielleicht in der Regel , die
wir beim Güterverkehr befolgen , die Ursache liege , daß so viel Unlust da ist , und nicht etwa
im tatsächlichen Mangel. Sie haben so als Aufgabe ihrer Disziplin erkannt , ein System von
Relationen daraufhin zu untersuchen , inwieweit es Lust und Unlust erzeuge. Es war eine regel-
mäßige Frage : Wie hängen Armut , d. h. Unlust , und Reichtum , d. h. Lust , mit der Art und Weise
der Güterverschiebung zusammen ? ( Neurath 1910 [ 1981a , 43 ])285
Die Ökonominnen und Ökonomen haben hier dennoch nicht moralisch oder politisch
zu werten , sondern lediglich die Zusammenhänge zu untersuchen. Seine Rolle als wis-
senschaftlicher Ökonom sah Neurath darin , möglichst viele mögliche Ordnungen zu er-
denken. Die Auswahl hätte dann die Politik zu treffen. Aber auch die Umsetzung sah er
dahingehend als „politisch neutral“ an , als sie von der politischen Machtorganisation un-
abhängig sei.286
Trägt Neuraths Vorstellung von einer zentral geplanten Verwaltungswirtschaft aber
nicht autoritäre Züge ? Nein , so ist Nemeth beizupflichten. Neurath ging es um eine Neu-
ordnung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse. Er wollte Ordnung als
gemachte sichtbar machen. ( Nemeth 1994 , 113 ) Insofern stellte er sich gegen das Dogma-
tische , das eine bestimmte Ordnung als unveränderbar vorstellte. Der Möglichkeitssinn
war hierbei besonders wichtig. Neurath benützte in diesem Zusammenhang deshalb den
Ausdruck „Utopie“:
Weit sinnvoller ist es wohl , alle Lebensordnungen , die nur in Gedanken und Bildern , nicht
aber in der Wirklichkeit vorhanden sind , als Utopien zu bezeichnen , das Wort Utopie je-
doch nicht dazu zu verwenden , etwas über ihre Möglichkeit oder Unmöglichkeit auszusagen.
285 Neurath reiht sich gerne in die Tradition von u. a. Aristoteles , Becher , Quesnay , Steuart , Smith , Ri-
cardo , Mill , Marx , C. Menger , W. Neurath und Pareto ein. ( Neurath 1917b [ 1981a , 128 ])
286 Helene und Otto Bauer fanden dies politisch naiv. Siehe dazu Hofmann 1982 , 140 ff.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441