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7. Otto Neurath : Moral
212 Utopien wären so den Konstruktionen der Ingenieure an die Seite zu stellen , man könnte sie
mit vollem Recht als gesellschaftstechnische Konstruktionen bezeichnen. ( Neurath 1919b , 228 )287
Normativer Rahmen für die Auswahl seiner ökonomischen Untersuchungen war für Neu-
rath unmissverständlich eine humanistische , sozial-eudämonistische Moral , die ihren
Zweck in der Maximierung der menschlichen Lust bzw. ihres Glücks sieht , auch wenn
dieser Rahmen der Nationalökonomie vorgegeben ist. Für Neurath ist die Ökonomie
jedenfalls ein wertvolles wissenschaftliches Mittel , um die moralische Zielsetzung der
Lebensverbesserung für Menschen zu erreichen. Die Wissenschaft ist hierbei ein In-
strument für ein moralisches Unternehmen , auch wenn Neurath selbst es nicht in al-
len Schaffensphasen so nennen würde , denn zeitweise ist „Moral“ für ihn auf eine Le-
benspraxis beschränkt , die lediglich an der Motivation von Individuen ansetzt und nicht
bei der Gestaltung von Institutionen. Zeitweise wird er sogar nur bei göttlichen Gebo-
ten von „Moral“ sprechen. In seinen früheren Werken zeigt sich sein Moralbegriff je-
doch noch als ein weiterer.
Auch wenn Neurath nach seiner Rückkehr nach Wien Anfang der 1920er-Jahre eine
universitäre Karriere in der Nationalökonomie verwehrt war , verfasste er weiterhin öko-
nomische Schriften , in denen er seinem generellen Ansatz treu blieb. So hielt er auch 1935
in Was bedeutet rationale Wirtschaftsbetrachtung ? fest , er wolle nicht aus Nicht-Imperati-
ven Imperative wie „Vermehre das Glück der Menschheit“ ableiten , da dies logisch un-
möglich sei. Die Termini „Glück“ und Wohl stand“ könne man jedoch wissenschaftlich
korrekt verwenden , und Korrelationen zwischen Wirtschaftsordnung und Wohlstand lie-
ßen sich korrekt formulieren. ( Neurath 1935 , 11 ) Ethik und vor allem Moral blieben auch
in der Wiener-Kreis-Periode bestimmend. Sowohl die außerwissenschaftlichen als auch
die wissenschaftlichen Tätigkeiten werden für Neurath Teil eines moralischen Unterneh-
mens bleiben.
287 „Utopien können die verschiedensten Ziele verfolgen , sie können außermenschlichen Idealen die-
nen , der Größe Gottes , der Größe der Nation und ihrer Herrschaft , sie können aber auch darauf
ausgehen , eine Welt zu schildern , in welcher die Menschen mit all ihren Fehlern und Gebresten so
glücklich zu leben vermögen , als es eben die natürlichen Grundlagen , Land und Meer , Rohstoffe und
Klima , Menschenzahl und Erfindungsgeist , Bildung und Arbeitswille gestatten. Ob man nun dies
Streben nach Glück , nach Seligkeit , nach Freude preist , ob man es für niedrig und gemein erklärt ,
jedenfalls läßt sich das Glück als Wirkung gesellschaftlicher Einrichtungen durchaus wissenschaft-
lich behandeln. Und gerade die Utopien der nächsten Jahre dürften der Entwicklung einer umfas-
senden Glückslehre durchaus förderlich sein.“ ( Neurath 1919c , 230 ) In Lebensgestaltung und Klassen-
kampf wird Neurath 1928 ausdrücken , welchen Vorteil die Kenntnis alternativer Verhältnisse für die
praktische Umgestaltung habe : „Die Beseitigung der überlieferten Ordnung nimmt man weit kraftvol-
ler in Angriff , wenn man verstandesmäßig in großen Zügen überblickt , wie eine andere Ordnung möglich
ist.“ ( Neurath 1928 [ 1981a , 243 ])
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441