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7. Otto Neurath : Moral
216 Die Lebenslage des Proletariats , sein Glück und Unglück sind durch die kapitalistische Lebens-
ordnung bedingt. Hilfe kann nur kommen durch die Umgestaltung der Ordnung , durch ge-
schichtliche Umwälzung. So ist Marxismus eine Art Sozialepikureismus. Er fragt nach dem
Glück der Menschen , dem Glück ganzer Klassen , dem Glück der Menschheit. Er sieht , daß
es abhängig ist von gesellschaftlichem , nicht von individuellem Tun. Auch nicht von göttlicher
Schickung. Er glaubt an keinen Gottvater , der Leiden als Strafe oder Prüfung verhängt , auch
an keinen Hegelschen Gottgeist , der in buntem Ablauf Gegensätze denkend verwirklicht.
( Neurath 1928 [ 1981a , 286 ])292
Auch wer nur auf Änderungen im Persönlichen bedacht ist , müsse das Gesamte ändern :
Wer die Wohnung , die Kleidung , die Feste , die Lektüre , das Liebesleben , die Geselligkeit ,
den Alltag wie den Feiertag , kurzum , das persönliche Leben ernstlich ändern will , muß
die Machtverhältnisse , die gesamte Gesellschaftsordnung ändern wollen. Er muß sich fra-
gen , wie diese Änderungen sich gesellschaftlichen Änderungen anpassen. ( Neurath 1928
[ 1981a , 236 ])
Wobei sich Proletarierinnen und Proletatier solche Fragen aufgrund ihres tagtäglichen
Kampfes nur selten stellen könnten.
Neurath geht es ganz ausdrücklich nicht nur um das Glück des Proletariats , sondern
um das der gesamten Menschheit , auf das hin das revolutionäre Proletariat einen ent-
scheidenden Schritt tue :
Wie kommt die Menschheit durch das Wirken des Proletariats auf dem Wege der Geschich-
te zu neuem Glück ? [ … ] Das revolutionäre Proletariat hat keine Angst mehr vor Gott , kein
Vertrauen zu ihm , es fürchtet keine Vergeltung nach dem Tode , wenn es die bürgerliche Ord-
nung zerstört. Es schafft eine Lebensordnung , die persönliche Leidenschaften nicht entfes-
selt. Daher auch : Befreiung vom Alkohol , von Ausschweifung ; es will fröhlich-friedliche
Gemeinschaft , es will ganz einfach „Glück“
– wie die Epikureer es wollten. Alles ist bedeut-
sam , soweit es für das Glück bedeutsam ist : dem sozialistischen Proletariat wie den Epiku-
reern. ( Neurath 1928 [ 1981a , 286 ])
Sprach Neurath früher eher von „Lust“, so nun vermehrt von „Glück“. Inhaltlich hat sich
dadurch nichts geändert. Er ist wie Schlick Eudämonist bzw. Hedonist , wobei bei Schlick
292 „Während aber der Epikureismus der Antike das Glück der Menschen als Wirkungen des individu-
ellen Handelns untersuchte , beschäftigt sich die Lebensordnungslehre des Sozialismus als eine Art
‚Sozialepikureismus‘ damit , das Glück der Menschen als Wirkung gesellschaftlichen Handelns zu be-
trachten. Wie wirken verschiedene Lebensordnungen , wie wirken verschiedene Maßnahmen auf die Le-
benslagen der Menschen und dadurch auf ihr Glück und Unglück ein ?“ ( Neurath 1925 , 27 f. )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441